Erstellt am: 16. 3. 2017 - 16:42 Uhr
Feeling all the Feels
Der Größenwahn eines grummeligen Eigenbrötlers. Die opulenten Memoiren eines im Gespräch wortfaulen Mannes, der am Liebsten einsam an der Bar sitzt und in sein Bier murmelt. Und sein Notizheft vollschreibt, mit winzigen Ideen, kleinen Beobachtungen und großen Geschichten.
Es ist die ambitionierteste Platte des Jahres, dabei luftig-leicht wie im Wind tanzende Rosenblätter. Stephin Merritt pflegt mit seinem Projekt The Magnetic Fields die Liebe zum überdimensionalen Konzeptwerk. "69 Love Songs" heißt das Opus Magnum der Magnetic Fields aus dem Jahr 1999 – und genau das und nicht weniger ist da auch drauf gewesen: 69 Lieder über die Liebe in allen Farben und Düften.
Gerade ist Merritts neues Album erschienen, es ist nur geringfügig minimalistischer angelegt. "50 Song Memoir" nennt sich nun die Platte, auch dieser Titel ist pragmatisch und stimmt. Stephin Merritt hat 50 Lieder aufgenommen, für jedes seiner Lebensjahre eines, fein säuberlich in aufsteigender Reihenfolge sortiert, beginnend im Jahr 1966 – da war Merritt ein Jahr alt.
"Wonder where I'm from", so heißt das erste Stück und verhandelt also gleich die große schwierige Frage nach der Herkunft und nach dem Ursprung. Dazu spielt Stephin Merritt seine Ukulele.
Dass die hier versammelten zweieinhalb Stunden Musik jedoch nicht bedeutungsschwanger und staatstragend daherkommen, liegt wie so oft an Merritts sicherem Händchen für Dynamik, Abwechslung, Reihung, Stimmungs- und Tonlagen-Modulation. In musikalischer wie in inhaltlicher Hinsicht.
The Magnetic Fields
Es gibt ein Lied über eine entlaufene Katze, eine Hymne auf Judy Garland, Lieder über Religion, den Tod, den erst spät im Leben getroffenen Vater. Lieder über seltsame Krankheiten, darüber, dass man gerade kein Geld hat, über Rock'n'Roll, über schwule Nachtclubs, über Disco und Lieder über das Liederschreiben. In der Bar.
Auch über die Liebe und über das Aufhören der Liebe, aber gar nicht mal so viele. Es sind Lieder voller Witz und voller Melodram, komische Lieder, traurige Lieder. Songs mit allem Pomp und Bombast und Beach-Boys-Orchester im Drei-Minuten-Format, dann wieder knappe Skizzen und intimer Kammerpop.
Wenn Stephin Merritt das Teenageralter erreicht, wird es elektronischer: Er entdeckt die Freude am Synthesizer, er erklärt uns – in New-Romantic- und Wave-Tonfall - wie wichtig es ist, den Synthesizer richtig zu spielen. "How to Play the Synthesizer" heißt das Stück, ein anderes widmet sich ausdrücklich dem Musiker John Foxx, einst Sänger der Band Ultravox und ewiggültiger Pionier elektronischer Popmusik.
Stephin Merritt ist Meister im Imitieren der Genres, im Herauskitzeln symptomatischer Eckdaten, genügt sich dabei aber nicht in der bloßen augenzwinkernden Persiflage. Es sind schöne Lieder – auch wenn es nicht selten alberne Lieder sind. Es gibt Fake-Eurodisco und nachgestellten Surfrock. Dann wieder die wundersam triefenden Balladen und das Schmalz und die kleine Zerbrechlichkeit.
Nonesuch/Warner
Mithilfe von wie beiläufig aus dem Ärmel geflutschten Beobachtungen erweckt Stephin Merritt universelle Gefühle zum Leben. Unaufdringlich, die Alltäglichkeiten erschaffen eine ganze Welt. Dann wiederum macht es Merritt genau andersherum und ist offensiv plakativ: "I'm Sad!" heißt ein Lied – und darum geht es darin auch, mit Ausrufezeichen hintendran.
Am Ende dann hinterfragt "50 Song Memoir" noch einmal seinen autobiografischen Charakter: Ist das alles vielleicht doch bloß ein Kunstwerk und herbeifantasiert gewesen?
"I Wish I Had Pictures" nennt sich das vorletzte Stück auf dem Album, hier fragt sich Merritt, ob seine Erinnerungen nicht eventuell doch bloß alle falsch und ungenau gewesen sein könnten. Die wahren Abenteuer sind im Kopf und auf dieser Platte.