Erstellt am: 15. 3. 2017 - 14:46 Uhr
Schottland, der Spiegel
Beginnen wir einmal mit den einfachen Tatsachen:
Vor zwei Tagen hat Schottlands First Minister Nicola Sturgeon ein zweites schottisches Unabhängigkeits-Referendum zwischen Herbst 2018 und Frühling 2019, also kurz vor dem erwarteten Vollzug des Brexit, angekündigt.
Mit der Begründung, dass die 62 Prozent des schottischen Wahlvolks, die vergangenen Juni „Remain“ wählten, nicht von der Regierung in Westminster ihrer EU-Mitgliedschaft beraubt werden dürften.
Sie wusste dabei wohl, dass die britische Premierministerin Theresa May ihr erst einen Termin für diese Abstimmung bewilligen muss.
May also hat die Macht, der schottischen Regionalregierung ihren Wunsch zu versagen, aber je weiter sie diese Macht nützt, umso mehr nützt sie dem Narrativ der Scottish National Party von Westminster in der Rolle der englisch-imperialistischen Diktatur, die Schottland ignoriert bzw. unterdrückt.
Sturgeons Standpunkt, dass eine Unabhängigkeits-Abstimmung am besten vor oder schlimmstenfalls kurz nach dem geplantem Abschluss des Artikel-50-Prozesses stattfinden muss, ist durchaus logisch.
Schließlich befürchtet sie eine mittlere ökonomische Katastrophe für Schottland, falls es 2019 aus dem EU-Binnenmarkt und der europäischen Zollunion purzelt (übrigens sehr zurecht; die Frage ist eher, warum englische Parlamentarier_innen so geblendet sind, dies nicht zu tun. Aber das ist eine andere Geschichte).
Allerdings weiß Sturgeon natürlich auch, wie unmöglich so ein Termin für May wäre. Schließlich werden deren Verhandlungen mit der EU genau zu derselben Zeit ihre kritischste Phase erreichen.
Optimist_innen glauben zwar immer noch, dass das (noch) Vereinte Königreich in zwei Jahren seine Verhandlungen mit der EU abschließen kann; allerdings nur in Bezug auf die gegenseitige Ausverhandlung der Rechte von EU-Bürger_innen in Großbritannien und vice versa, bzw. was die Einigung auf die Höhe der zu bezahlenden Scheidungskosten betrifft, unter anderem für laufende EU-Projekte, an denen Großbritannien beteiligt ist, aber auch Pensionen von Beamt_innen, die in Brüssel für Großbritannien gearbeitet haben.
Es gibt natürlich auch eine britische Jurist_innenmeinung, wonach Großbritannien der EU gar nichts zu bezahlen habe. Mit dieser Strategie kann man ein Handelsabkommen aber gleich vergessen, das sollte sogar die britische Regierung verstehen, obwohl man weiß ja nie.
So oder so kann sich nur ein echter Fantast wie Boris Johnson noch den gleichzeitigen Abschluss eines Handelsabkommens mit der EU bis Frühling 2019 vorstellen.
Realistisch gibt es dagegen zwei Möglichkeiten:
1) Dass Großbritannien es schafft, das EU-Verhandlungsteam und 27 EU-Staaten zu einem Interimsabkommen zu bewegen, bis ein neuer Handelsvertrag mit der EU abgeschlossen wird.
Was Jahrzehnte dauern könnte.
2) Dass die Verhandlungen einfach scheitern, samt aller desaströsen Konsequenzen, also endlose Staus wegen Zollschikanen an den Grenzen, einem Zusammenbruch komplexer Import- und Export-Ketten, dem Verlust der EU-Passrechte für Britanniens Finanzindustrie, einem legalen Alptraum für die Hunderttausenden Brit_innen, die ihre Rente in Spanien und Frankreich verbringen, und einem Herausfallen aus unzähligen, essentiellen Abkommen wie etwa zur Lizenzierung von Medikamenten oder dem „Open Skies“-Abkommen in der Luftfahrt.
Beide Szenarien könnten Sturgeon nützen.
Nur ein offensichtlich erfolgreicher Brexit könnte ihr schaden.
Und darin liegt die erste große Ironie ihres Konflikts mit May.
Wäre May nämlich tatsächlich überzeugt, dass die Verhandlungen mit der EU so zügig laufen, wie ihr immer zerknirschter aussehender Brexit-Minister David Davis erst heute wieder in pflichtgemäßer Beharrlichkeit vor dem parlamentarischen Brexit-Komitee behauptete, dann bräuchte sie eine schottische Unabhängigkeits-Abstimmung kaum zu fürchten.
Im Gegenteil, sie könnte den Schott_innen den Weg in eine sonnige Zukunft im Schoße der britischen Union weisen und nebenbei der SNP eine existentielle Niederlage zufügen.
Komischerweise glaubt an diese Option aber niemand.
Gestern wiederum stellte Angus Robertson, Anführer der SNP-Parlamentsfraktion in Westminster, in Aussicht, dass es kein schottisches Referendum zu geben bräuchte, wenn Theresa May der Regionalregierung in Edinburgh nur rechtzeitig einen speziellen Deal für Schottland garantiere.
Einen Deal nämlich, in dem Schottland Teil des Binnenmarkts bleibt, auch wenn England und Wales ihn verlassen (die berechtigte Frage, was mit Nordirland passiert, bedingt ebenfalls eine sich anbahnende Verfassungskrise, auch das ist aber wieder eine andere Geschichte).
So einen Deal kann und wird es wohl nicht geben, aber: Darum geht’s auch gar nicht.
In Wahrheit, und deshalb titelte die Daily Mail gestern so panisch „Hände weg von unserem Brexit, Nicola!“, gefährdet die Taktik der SNP ganz bewusst das gesamte Projekt.
Daily Mail
Egal, ob oder wann Theresa May den Schott_innen einen Deal oder einen Abstimmungstermin anbietet: ab jetzt hält ihr die schottische Debatte einen Spiegel vor.
Sie sagt, dass es von Sturgeon völlig unverantwortlich wäre, Schottland von seinem größten Wirtschaftspartner (England) zu trennen und für eine separatistische Agenda die wirtschaftliche Sicherheit ihres Landes aufs Spiel zu setzen.
Und sie sagt exakt das Gegenteil über Großbritanniens Austritt aus der EU.
Weder Sturgeon noch Robertson werden Gelegenheiten auslassen, diesen absurden Widerspruch aufzuzeigen.
Unter Gebrauch von Mays Argumenten für die britische Union können sie für den Verbleib bei einer weit größeren, nämlich der Europäischen, Union plädieren.
Und analog zu Mays Verheißung des Brexit als Ideal nationaler Selbstbestimmung können sie den Austritt aus der britischen Union propagieren.
Ein besseres Schulbeispiel einer logischen Endlosschleife ließe sich gar nicht erfinden, es macht fast schon perversen Spaß, da zuzusehen.
Der praktische Nutzen davon ist aber, dass es nebst einer gelähmten Labour Party mit der SNP nun eine Stimme gibt, die die geballte Inkohärenz des britischen Standpunkts gnadenlos aufzeigen wird. Und zwar im innerbritischen politischen Diskurs, und nur der zählt hier.
Das zieht einen dicken Strich durch die Rechnung der Regierung in Westminster, man könnte alle Schuld auf die komischen Ausländer_innen am Kontinent mit ihren komischen Akzenten schieben, wenn irgendwas schief geht (und es wird), und so die Öffentlichkeit bei der Stange halten.
Natürlich lassen sich die Schott_innen ebenfalls als querulantes Element verdammen, aber nicht, ohne damit eine noch größere Entfremdung von England und ein entscheidendes Kippen der Stimmung in Richtung Unabhängigkeit zu riskieren.
Das Spiel der Brexiteur_innen mit nationalen Gefühlen geht dann schwer nach hinten los.
Und deshalb klingt es etwas hohl, wenn die Londoner Medien darauf hinweisen, dass in Umfragen die Unterstützung für einen Austritt Schottlands immer noch klar unter der 50-Prozent-Marke liegt.
Freilich hat Sturgeon hoch gegamblet, eine zweite Referendumsniederlage nach 2014 könnte sie politisch nicht überleben.
Doch ihre einzige Alternative wäre gewesen, ewig mit einem Referendum zu drohen, bis ihr niemand mehr glaubt.
Darüber hinaus ist ihre Überzeugung, dass Brexit katastrophal für Schottland wäre, nachvollziehbar und echt. Hand in Hand mit den Engländer_innen in den Abgrund zu marschieren ist keine Option.
Das in ihrem arroganten Verhalten gegenüber Schottland nie mitzudenken, ist ein Zeichen von Theresa Mays Mangel an Empathie, einer Eigenschaft, die sie in ihren Verhandlungen mit der EU bitter nötig haben wird.
Jetzt liegen gleich zwei Bälle im Garten der Premierministerin: Artikel 50 und der schottische Referendumstermin. Ersteren hat sie schon einmal aufs Monatsende verschoben.
Ihre geifernde Gang, die rabiaten Rechten in der eigenen Partei, die Sun, die Mail und der Express, scharren schon mit den Füßen.
Ein lascher Kick ins lange Gras wird sie nicht begeistern.