Erstellt am: 14. 3. 2017 - 11:45 Uhr
Niederlande: Schicksalswahl für Europa?
von Florian Bayer
Der Autor ist derzeit auf Auslandssemester in Antwerpen
2017 ist ein Schicksalsjahr für Europa. Nicht nur befindet sich die EU nach wie vor in einer gefühlt endlosen Krise, es finden auch in drei ihrer Gründungsstaaten Wahlen statt: In den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Bereits am Mittwoch entscheiden die Niederländer, wer die 150 Sitze der zweiten Kammers des Parlaments in Den Haag besetzen soll.
Schon Wochen vor der Wahl war die Rede von Schicksals- und Chaoswahlen. Wird der islamkritische Rechtspopulist Geert Wilders gewinnen? Viele Umfragen haben seiner PVV (Partij voor de Vrijheid) eine Verdopplung der Stimmen auf 20 Prozent vorhergesagt – in der zersplitterten niederländischen Parteienlandschaft ist das enorm und könnte für Platz Eins reichen, insbesondere nachdem die derzeitige große Koalition voraussichtlich stark verlieren wird.
Welche Alternativen außer rechts-außen gibt es sonst noch? Im Rahmen meines Auslandssemesters im belgischen Antwerpen, nur 20 Kilometer von der niederländischen Grenze, habe ich niederländische Studenten zu ihrer Meinung befragt.
Wikipedia, CC by SA 4.0
Das sagen niederländische Studierende zu den Wahlen
Florian Bayer
"Diese Wahlen sind nervenzerfetzend! Es kann wirklich in beide Richtungen gehen. In den USA und mit dem Brexit haben wir gesehen, wie schnell es gehen kann und auf einmal rechts-außen zum Mainstream wird. Das macht mir Angst", sagt Donna (21). Sie kommt ursprünglich aus Ossterhout im Süden des Landes, lebt aber nun in Antwerpen, wo sie spanische und englische Literatur studiert.
Bis zuletzt zog sie an ihren freien Wochenenden in ihrer Heimat von Haus zu Haus, um die Leute zum Wählen zu motivieren und ihnen GroenLinks nahe zu legen, eine Grünpartei, die besonders bei Studenten beliebt ist. "Wir wollen Veränderung! Und wir wollen positiv in die Zukunft blicken können, anstatt uns nur Sorgen machen zu müssen", sagt Donna.
Auch die 1966 gegründete D66 (Politieke Partij Democraten 66) ist bei jungen Menschen sehr beliebt. Das ist eine liberale Partei, die sich für Bildung, nachhaltige Energie und eine Liberalisierung des Gesundheitssektors stark macht. Sowohl GroenLinks als auch D66 kommen in vielen Umfragen auf elf Prozent, was vor allem für GroenLinks (2012: 2,3 Prozent) ein riesiger Erfolg wäre.
Zersplitterte Parteienlandschaft
Die Konkurrenz ist freilich groß, denn die Niederlande haben wohl eine der vielfältigsten Parteienlandschaften der Welt: In diesem Jahr stehen 28 Parteien auf dem Wahlzettel, darunter mehrere religiöse Parteien, eine Partei für alle über 50 Jahre sowie eine Tierschutzpartei. Anders als in Österreich gibt es keine Vier-Prozent-Hürde, um ins Parlament zu kommen – es reichen bereits 0,67 Prozent der Stimmen (das entspricht etwa 63.000 Wählerstimmen) für einen der 150 Sitze. Derzeit sitzen Vertreter von elf Parteien im Parlament – nach diesen Wahlen könnten es noch mehr sein.
Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die derzeitige große Koalition zwischen der der bürgerlich-neoliberalen VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) und der sozialdemokratischen PvdA (Partij van de Arbeid) abgestraft werden wird. "Viele Leute waren unmittelbar nach den Wahlen 2012 enttäuscht, weil die PvdA ohne Not direkt auf die VVD, eigentlich ihre Erzfeinde, zugegangen ist. Darüber hinaus gab es eine Menge gebrochener Versprechen und keine spürbare Veränderung", sagt Daan (23), der nach einer praktischen Journalismusausbildung in Utrecht nun an der Uni Antwerpen Kommunikationswissenschaften studiert.
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Während die sozialdemokratische PvdA bei unter zehn Prozent in den Umfragen liegt, liefern sich der VVD-Premierminister Mark Ritte und Geert Wilders ein Kopf-an-Kopf-Rennen - ein Duell, auf das auch die Medien gerne aufspringen. "Bereits in den vergangenen Monaten hat sich die VVD stark nach rechts gelehnt, um Wilders Stimmen abzugraben", sagt Daan. Eine Strategie, die für einen der beiden durchaus aufgehen könnte, so der Student.
Rechtspopulismus auf dem Vormarsch
Bis vor wenigen Wochen hätten die meisten Beobachter auf Geert Wilders und seine PVV gesetzt, die die Einwanderung beschränken, Moscheen schließen und den Koran verbieten will. Nachdem Wilders aber drei große TV-Duelle vor der Wahl abgesagt hatte, sind seine Werte in den Umfragen um mehrere Prozentpunkte eingebrochen. Wie allerdings die US-Wahlen und das Brexit-Referendum gezeigt haben, werden gerade rechte Ansichten und Parteien in Umfragen oft unterschätzt. Nach knapp 20 Jahren im niederländischen Parlament (anfangs für die bürgerliche VVD) und 13 Jahren nach der Gründung seiner PVV meinen viele Beobachter, dass nun die Stunde des Rechtspopulisten Wilders gekommen sei.
"Für jemanden, dessen Herz links und sozial schlägt, ist das furchterregend. Letzten Sommer hat Wilders sein Wahlprogramm präsentiert, und es war lediglich eine einzige Seite: Voll mit Forderungen gegen Immigration", sagt Carola (25). Sie studiert Geschichte. Wilders hätte sich schon seit Jahren gegen den Islam eingeschossen, insbesondere gegen Marokanner, die er am liebsten alle des Landes verweisen würde. "Aber wie will er das bitte machen, ohne unsere Grundrechte von religiöser und persönlicher Freiheit zu verraten?", fragt Carola.
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Sie glaubt, dass viele seiner Wähler im Fall eines Siegs Wilders' enttäuscht sein werden, wie wenig von seinen Forderungen er tatsächlich umsetzen wird können.
Schließlich reichen selbst 20 Prozent, was eine Verdopplung bedeuten würde, nicht aus, um ihn zum Premierminister zu machen. Derzeit ist nämlich keine parlamentarische Mehrheit in Sicht, haben doch mehrere große Parteien angekündigt, keinesfalls mit ihm zu koalieren: Darunter die PvDA, Groen Links und die SP (Socialistische Partij). Auch Premierminister Ritte hat sich mehrmals von Wilders distanziert. Nachdem sich allerdings auch Rittes VVD zuletzt deutlich restriktiver in Sachen Immigration positioniert hat, bleibt abzuwarten, wie sie im Falle eines Siegs von Wilders reagieren würde.
Das Ende der Offenheit?
"Es wäre schade, wenn die Niederlande ihre traditionelle Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen aufgeben würden", sagt Carola. Eine Aufgeschlossenheit, die nicht zuletzt in der weniger rühmlichen Vergangenheit als Kolonialmacht rührt. "In letzter Zeit mehren aber sich die kritischen Stimmen gegenüber Einwanderern, viele fühlen sich nicht mehr sicher und denken: Sie nutzen unsere Gastfreundschaft aus", so die Geschichtsstudentin, die die Bildung von Parallelgesellschaften in den größeren Städten, vor allem Amsterdam und Rotterdam, als Teil des Problems ausmacht.
Andererseits sieht sie auch gewisse Schikanen vonseiten des Staats: So müssen etwa alle Neuankömmlinge einen Integrationstest ablegen, in dem etwa die Nationalhymne oder die Gründungsväter der Niederlande abgefragt werden. "Das ist doch lächerlich. Muss man das wirklich wissen, um integriert zu sein? Auch viele ‚echte‘ Holländer können das nicht beantworten", bezweifelt Carola die Sinnhaftigkeit. Anders als es manche Politiker darstellen, stehe es um die Sprachkenntnisse der Zuwanderer (und nachfolgender Generationen) sehr gut. Wo ist also das Problem?
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"Wir haben eine lange Geschichte der Einwanderung. Schon in den 1950ern und 1960ern kamen viele Einwander aus Indonesien und Suriname (frühere Kolonien, Anm.), und es gab keine wirklichen Probleme", sagt Diana (23), selbst Tochter einer Kongolesin und eines Angolaners, aber in den Niederlanden aufgewachsen. "Viele Muslime aus der zweiten Generation, vor allem aus Marokko, mussten aber merken, dass sie anders als andere Immigranten behandelt werden, und sie begannen sich von der Gesellschaft zu entfremden." Und manche begannen, sich religiös und politisch zu radikalisieren, so die Studentin. Das legte den Grundstein für die steile Karriere des Geert Wilders, "der in den Köpfen der Menschen Furcht säen will". Die islamistisch motivierten Terroranschläge in den Nachbarländern Belgien und Deutschland haben noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen.
Dazu versteht Wilders, sich als Opfer von Medien und Establishment darzustellen. "Linke" Mainstreammedien würden ihn sowieso nur hassen, also sieht er auch keinen Grund mit ihnen ins Gespräch zu kommen, so Diana: "Und wenn er doch einmal Interviews gibt, dann redet er viel, hat aber eigentlich nichts zu sagen. Er spielt den ‚Underdog‘, auch indem er es verweigert, mit anderen Politikern oder Experten über Inhalte zu sprechen." Wilders wisse ganz genau, dass er am stärksten punktet, wenn er die Regierung kritisiert, aber nicht mit eigenen Ideen. "Die er auch gar nicht hat, abseits vom Ausländer-Thema."
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Kein Programm
Tatsächlich haben sich einige Journalisten der populären niederländischen "Daily-Show" am Sonntagabend die Mühe gemacht, alle seine jüngeren Interviews und Reden zu analysieren und somit mehr über seine Agenda zu lernen. Sie fanden keine, abgesehen vom allgegenwärtigen Hinhacken auf Muslime. Das bestätigt sich auch, wenn man seinen Twitter-Feed ansieht. Polemische Kommentare: Ja. Politische Statements: Fehlanzeige. Überhaupt dreht sich seine PVV allein um Wilders: Sobald jemand anderer aus seiner Partei ihm das Rampenlicht streitig machen könnte, sägt er den oder die Betreffende wieder ab – das ist in den vergangenen Jahren mehrmals passiert, erzählen mir die Studenten. Wilders lässe sich durchaus mit Trump vergleichen – nicht nur in Sachen Haarfarbe, sondern auch in seiner Opferrolle und seinem Ego.
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Und seiner Gefährlichkeit: Alle vier Studenten hoffen, dass Wilders ein schwächeres Ergebnis einfahren wird als vorhergesagt. Sie sind aber angespannt, ihr Optimismus hält sich in Grenzen: Nicht zuletzt, weil die jüngste diplomatische Eskalation zwischen den Niederlanden und der Türkei den Rechten in die Hände spielen könnte. Am Mittwoch um 21 Uhr wissen wir mehr, dann schließen die letzten Wahllokale und die ersten Ergebnisse werden verkündet. Spätestens am Donnerstag gibt es das Endergebnis – und vielleicht eine Vorahnung die Frage, welche Richtung Europa in diesem Schicksalsjahr einschlagen könnte.