Erstellt am: 12. 3. 2017 - 13:29 Uhr
Flucht ins Land der Berge und Lichter
FM4 Buch
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Josie ist mit ihren beiden Kindern auf der Flucht, sie will unbedingt einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben setzen. Ihre Praxis in Ohio musste die Zahnärztin aufgeben, weil eine todkranke Patientin sie verklagt hat - Josie hat bei ihr Kieferkrebs übersehen. Kurz nach dem beruflichen Rückschlag folgte der private: Ihren Mann Carl, prägnant als nutzloser Waschlappen beschrieben, hat Josie verlassen.
Kiepenheuer & Witsch
Auch andere Geister schwirren in ihrem Kopf, der eines mittlerweile toten Patienten, von ihr damals leichtfertig dazu ermuntert, in den Krieg zu ziehen, und ebendort gefallen. Oder, weniger drastisch aber nicht weniger belastend, die anderen Yoga-Mütter, beschäftigt nur mit der kreativen Freizeitauslastung ihrer Kinder, die Josie ihre Karriere vorwerfen.
"Chateau" heißt nun ironischerweise der klapprige, fahrbare Untersatz, mit dem die Mutter ihre zwei Kinder durchs Land und nach Alaska chauffiert, im Kopf die Gedanken von Wiederfindung, Freiheit, Neuanfang. Wir treffen die Mutter der beiden, als sie sich gerade ein Achterl Pinot Noir einschenkt, die Kinder endlich in der ungemütlichen Schlafkombüse eingedöst sind und sie die schwere Stille und scheinbare Unendlichkeit der Landschaft auf sich hereinbrechen lässt.
Heroes of the Frontier
"Heroes of the Frontier" heißt der Roman in der Originalfassung, schnell weiß man, von welchen Helden hier die Rede ist: Josies Kinder. Paul ist acht Jahre alt, ein wenn auch manchmal gespenstig in sich ruhendes, dafür umso vernünftigeres Kind, der trotz seines zarten Alters die Vaterrolle für seine jüngere Schwester übernimmt. Er ist es auch, der oft mehr Verantwortungsbereitschaft an den Tag legt als seine Mutter.
"Seine Wimpern waren spektakulär, und ganz gleich, was in seinem Leben passieren würde, die würde er haben, und diese Wimpern würden allen vermitteln, dass er sanft war und freundlich und, im Zusammenspiel mit seinen eisblauen Augen, dass er intelligent war und klug und vielleicht die Zukunft erahnen konnte."
Bekannt wurde der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers vor allem durch seine Romane
"Circle" (2013) und
"Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?" (2015) - und wartet bis darin gern mit schaurigen Gesellschaftsdystopien auf.
Ana hingegen, die stürmische Fünfjährige, ein unaufhaltsamer, (selbst-)zerstörerischer Wirbelwind, der alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen will.
"Sie wachte begeistert auf und ging widerwillig zu Bett. Dazwischen machte sie fünf Schritte, wenn alle anderen einen machten, sang lauthals Lieder, die sie sich ausgedacht hatte und die keinen Sinn ergaben, und versuchte außerdem bei jeder Gelegenheit, sich selbst Schaden zuzufügen. Aus der Ferne ähnelte sie einer ständig betrunkenen Erwachsenen – stieß gegen Dinge, schrie Unverständliches, erfand Wörter."
Tom Pilston
Paul kümmert sich sorgvoll um seine Schwester, wie man es von einem Achtjährigen selten erleben wird. Selbst Josie ist oft erstaunt, wenn sie ihren Kindern zusieht. In genau diesen Beobachtungen zeigt Dave Eggers seine pointierte Wortgewandtheit und sein sensibles Gespür für ausgefallene zwischenmenschliche Konstellationen, die den Roman nicht nur zu einer guten Erzählung, sondern auch an vielen Stellen zu einer bittersüßen Tragikomödie machen. Die schönsten Stellen des Romans sind die, in denen es um die Protagonisten und ihre Beziehung zueinander geht, in denen von der Liebe zwischen den Kindern die Rede ist. Es ist nicht die inhaltliche Spannung, von der dieser Roman lebt, vielmehr scheint es so, als könnte Josie mithilfe des Wohnwagens alle Gefahren abschirmen, seien es betrunkene Männer, Waldbrände oder streunende Hunde. Es ist vielmehr die spannende Charakterzeichnung seiner Hauptfiguren, die einen die Seiten so rasch lesen lassen, deren Fehlen gerade in Dave Eggers kommerziell sehr erfolgreichen Romanen oft bemängelt wurde.
"Die abgöttische Liebe des Jungen zu ihr war sonderbar. Als Ana ein, zwei, drei Jahre alt war, wollte Paul unbedingt mithelfen, sie ins Bett zu bringen, und erfand jeden Abend ein neues Lied für sie, um sie in den Schlaf zu singen. […] Er war wirklich ein erstaunlicher Lyriker mit vier, fünf, sechs, und Ana lag da und sah ihn unverwandt an, die Augen starr, nuckelte an ihrem Fläschchen, lauschte jedem Wort. Und seine Bilder! Die zeigten ein anderes Maß an Liebe: Er signierte alles, was er schuf, mit Paul und Anna."
flickr/Public Domain
Was hast du getan, und wieso?
Auf ihren turbulenten Reisen durch die Landschaft, immer wieder durch unglückliche Vorfälle von Ort zu Ort gejagt, denkt Josi nicht nur über ihre ersehnte Freiheit, sondern auch sehr oft über ihre Rolle als Mutter nach.
"[…] dein Glas Wein trinken und ein neues eingießen und überlegen, ob du nach anderthalb Gläsern Rotwein in jeder Hinsicht eine bessere Mutter bist. Eine beschwipste Mutter ist eine liebende Mutter, eine Mutter, deren Freude, Zuneigung, Dankbarkeit vorbehaltlos sind. Eine beschwipste Mutter ist reine Liebe und keinerlei Zurückhaltung."
Sie stellt ihre Kinder vor Herausforderungen, um sie im Anschluss daran über ihr Handeln zu befragen, und beruft sich damit direkt auf die Sokratische Lehre. Das klingt intellektuell ausgeklügelt, ist aber erfrischenderweise nur die Ehrlichkeit einer Mutter, die ihres Jobs manchmal müde ist.
"Sokrates hat die ideale Methode für Eltern gefunden, die gern dasitzen und sehr wenig tun. Durch umsichtige Fragestellungen könnten ihre Kinder hier, an diesem Strand bei Seward, Lesen und Schreiben lernen. Natürlich könnten sie das. Lest mal den Namen von dem Schiff da. Schnell, lest den Warnhinweis auf dem Wassertaxi. Lest die Erklärung zur Stromspannung an der Außensteckdose."
Die ewige Suche nach dem amerikanischen Traum
Durch Josies Augen blickt Eggers nicht nur in ihr Familienleben, sondern auch in die Augen der amerikanischen Gesellschaft. Die ist eine wütende, mit löchrigen Zähnen aber schlimmer noch, löchrigen Krankenversicherungen – verloren im schlecht bezahlten Alltag, der vor allem in der Vorstadt unerträglich wird. Auf ihrer Reise durch Alaska treffen Josie und ihre Kinder auf weitere AussteigerInnen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, auf der Flucht sind, nicht nur vor familiären Verhältnissen, sondern oft einfach vor dem Finanzamt.
"Bis an die Grenze" wirkt wie der Gegenentwurf zum Roman "Circle", in dem es um die Zerstörung der Privatsphäre durch Technologie, und in weiterer Folge um die Selbstzerstörung ging. Jetzt geht es darum, fernab von allen Medien, sich selbst in Einsamkeit, Ruhe und der Familie wiederzufinden.
Unverklärt erzählt Dave Eggers eine alte Geschichte: die Suche nach dem American Dream. Josie und ihre Familie schlägt sich durch, kämpft an, kämpft weiter. Und vor allem hofft sie weiter, egal, unter welch schwierigen Umständen sie gerade (über)leben muss.
Die Erzählung dreht sich natürlich um den Mikrokosmos einer dreiköpfigen Familie, aber angesichts der momentanen politischen Lage in den USA liest sich das faszinierend aktuell.