Erstellt am: 7. 3. 2017 - 22:13 Uhr
Wilkos quietschende Ledercouch
Seien wir ganz ehrlich, ich kümmer mich ja schon seit Jahren nicht mehr um die Pop-Charts, quasi als Teil eines Selbstversuchs zur Erbringung des Nachweises, dass man solche Sachen heutzutage als hauptberuflicher Pop-Journalist nicht mehr zu wissen braucht.
Nicht etwa, weil zeitgenössischer Pop-Mainstream uns nichts zu sagen hätte, sondern schlicht, weil man nichts dafür gezahlt kriegt, darüber zu schreiben, nachdem das Publikum von Chartsmusik leider nichts für seine Musikmedien bezahlen will.
Wieso sollte es auch, schließlich bezahlt es ja auch nichts für seine Musik.
Nein, ich urteile nicht darüber, ich seh mir nur gerade die Midweek-Charts an, zu denen gestern und heute einige Kolleg_innen verlinkt haben, samt verschiedenen Versionen der Feststellung des Offensichtlichen, nämlich DASS DAS JETZT ABER WIRKLICH DEN TOD ZUMINDEST DER SINGLES-CHARTS BEDEUTET.
Ich spreche von 14 Ed Sheeran-Songs in den britischen Top Twenty.
Und dann noch einem auf Platz 21.
Wäre das jetzt, sagen wir, Beyoncé gewesen, hätte der Guardian noch geschrieben, dass sie eben ruled, aber nachdem's nur der Lulu ist, den bei der Presse eh keine_r mag, (dabei war doch sein Auftritt ein Lichtblick im letzten Bridget Jones-Film!), dürfen wir alle die Wahrheit sagen:
Das mit den Streams einzelner Songs als Charts-Futter ist schwer daneben gegangen, dieser Maßstab ist ab jetzt keiner mehr, und selbst die hartgesottensten Kulturoptimist_innen müssen zugeben: Für den Pop ist das das Ende einer Ära.
Und wie reagiert ein rundum irrelevantes Pop-Format wie FM4 Heartbeat gestern Abend darauf?
Es spielt ein anderthalbstündiges Interview mit Wilko Johnson, einem alten Pub-Rocker in Schwarz, der von den frühen Siebziger Jahren bis heute seine schwarze Telecaster mit dem roten Schlagbrett derart furchtlos mit Knöcheln und Nägeln schrubbt, dass man ihn nach zwei Takten blind erkennt.
Der auch mit 70 noch von seiner Jugend in den mittleren Siebzigern als amphetaminverseuchte, glubschäugige, rastlose Bühnenpräsenz in der Band Dr Feelgood lebt, ohne dabei das Geringste an Würde einzubüßen.
Und als Einleitung dazu, adding insult to injury - ein weiterer Affront an die Pop-Gegenwart - spielt FM4 Heartbeat dann noch ausgerechnet die Motown-Parodie „Hitsville U.K.“ aus „Sandinista!“ von den alten Clash.
Diese wie zum Widerspruch der eigenen These seltsam zurückhaltend produzierte Hymne an den großen Pop-Moment, wo das Undenkbare geschieht und eine Band, die nicht da hingehört hätte, mittels „a mike'n boom in your living room“ in den Mainstream vordringt.
Einwurf, weil es auch in der Sendung erwähnt gehört hätte: 1982, knappe zwei Jahre nach "Hitsville U.K." sollten The Jam, gelehrige Schüler unter anderem auch von Dr. Feelgood und The Clash, im Song "Town Called Malive" genau denselben Motown-Beat verwenden, um die Prophezeiung des Clash-Songs wahr zu machen und ihre dritte Nummer Eins zu landen.
Als das noch wirklich was bedeutete:
Ein Protest-Song gegen die Verrohung des Thatcherismus mitten im Mainstream.
Nicht, dass es was geändert hätte. Zwei Monate später begann Thatcher den Falkland-Krieg und wurde so populär wie nie.
Auch damals zählte der Krieg mehr als Pop-Singles.
Ich hab das Jahr '82 jedenfalls gut im Gedächtnis, da war ich nämlich zum ersten Mal in meinem Leben auf Sprachferien in England, und zwar ausgerechnet dort, wo Wilko Johnson und seine Band Dr. Feelgood herkamen:
Canvey Island, Essex, die Oil City.
Eine flache Insel in der Themsenmündung, dominiert einerseits von Gasometern, andererseits von Bungalows aus den Fünfzigern und Sechzigern (wegen der katastrophalen Überschwemmung des Jahres 1953, als ein rundes Drittel der 38,000 Einwohner_innen evakuiert werden musste, darunter übrigens auch ein sechsjähriger Wilko).
Für einen ahnungslosen Zwölfjährigen wie mich war Canvey Island irgendwie am Geruch erkennbar als suburbane Heimat des zu jener Zeit gerade erst verpufften, schmucklosen R&B-Revivals von Essex, das eine der unleugbaren Grundlagen für den britischen Punk geschaffen hatte (ein gewisser Günter Brödl übrigens hatte sich das aus der Entfernung angesehen und daraus einen Teil der Zutaten für seinen Ostbahn-Kurti Mythos geschöpft).
Aber ich hab mich hier wieder einmal völlig im Dickicht der Referenzen und der Jahrzehnte verloren und muss wieder zum Ausgangspunkt, der „Hitsville U.K.“ zurückkehren.
Schließlich war all das Obige nicht der Grund, warum ich in meiner Sendung vor dem Wilko-Special jenen Clash-Song spielte.
Der unmittelbare Anlass dafür war vielmehr die unerwartete Präsenz eines fast zahnlosen alten Mannes, als Wilko Johnson mich letzte Woche in Southend, nur einen kurzen Möwenflug von Canvey Island entfernt, zum Interview in sein Wohnzimmer vorließ.
Robert Rotifer
„Das ist Lew Lewis“, sagte Wilko, deutete auf diesen Mann im grauen Regenmantel, und mein inneres, kleines Rock-Lexikon erkannte ihn - ausschließlich an seinem Namen - als genau den Typen, der vor Ewigkeiten bei der anderen großen Canvey-Island-Band Eddie & The Hot Rods die Mundharmonika geblasen hatte. Und eben auch auf „Sandinista!“.
Womit ENDLICH der Kreis von vorhin bzw. der vom Pub-Rock zum Punk zur verlorenen Charts-Utopie geschlossen wäre.
So geht es eben zu in meinem verwirrten, alten Kopf.
Lew jedenfalls erzählte mir prompt von der Geschichte neulich, als er nach einer durchtrunkenen Nacht im Haus seines Bruders beinahe in einem von einem Blitzschlag ausgelösten Hausbrand umgekommen wäre. Seine Stimme war gezeichnet von der Rauchgasvergiftung, die er sich dabei zugelegt hatte.
Robert Rotifer
"Das überrascht mich kein bisschen", war Wilko Johnsons lapidarer Kommentar, "Lews Leben war immer schon mit solchen Katastrophen gepfeffert."
Wie zu Dr. Feelgoods besten Zeiten hatte Lew mit seiner Abenteuergeschichte den perfekten Aufwärm-Act gegeben, in diesem Fall für mein Gespräch mit Wilko auf seiner quietschenden Ledercouch.
Robert Rotifer
Darüber, wie Dr. Feelgood einst als Rock'n'Roll-Gangster in billigen, aber perfekten Anzügen aus dem proletarischen Essex nach London gingen, um der Szene in den Pubs der Hauptstadt gründlich Angst einzujagen.
Wie Wilko nach seinem Rauswurf bei Dr. Feelgood Ende der Siebziger erst bei Ian Dury & The Blockheads, dann in Japan einen neuen Weg fand, vom Telecaster-Schrubben seinen Lebensunterhalt zu verdienen (jetzt einmal abgesehen von jener schweigenden Rolle in „Game of Thrones“, für die ihn heute von Dr. Feelgood unberührte Generationen verehren).
Wie Wilko seinen Gitarrensound einstellt (ein Verstärker, ein Kabel, alle Regler auf 7).
Wie in Wilkos Bauch vor drei, vier Jahren ein ballgroßes Geschwür wuchs, ihm der sichere, baldige Tod prophezeit wurde, er schnell noch viermal nach Japan fuhr und mit Roger Daltrey eine letzte Platte einspielte.
Ehe die radikale Operation eines wagemutigen Chirurgen ihm dann doch noch einmal das Leben rettete.
Ich gebe zu, das klingt alles wie das reinste Durcheinander, und den Bezug zu Ed Sheeran hab ich auch schon vor einigen Absätzen verloren.
Aber um solche sehr komplexen Dinge schlüssig und flüssig zu erklären, gibt es eben einerseits:
Das Leben geht weiter, die dieser Tage bei Heyne Encore in der deutschen Übersetzung erscheinenden Memoiren des Wilko („Don't You Leave Me Here“ im Original).
Und andererseits die erwähnte Radiosendung, die sich genau hier bis Sonntag anhören lässt.
Das wollte ich eigentlich hier sagen, mehr nicht.
Robert Rotifer