Erstellt am: 13. 3. 2017 - 14:35 Uhr
Ellbogen ausfahren
Hazal ist 17, lebt in Berlin und hat eine türkischstämmige Familie: Strengen Vater, schlimmen Bruder und eine Mutter, die nicht versteht, was Hazal den ganzen Tag im Jugendbeschäftigungszentrum macht.
„Ellbogen“ von Fatma Aydemir ist im Hanser Verlag erschienen.
„Was soll ich denn sonst machen?“
„Zu Hause bleiben und Bewerbungen schreiben.“
„Ach so, ja? Wie viele habe ich dieses Jahr denn schon geschrieben? Fünfzig? Sechzig? Und wie viele Jobs habe ich? Einen halben und der ist schwarz und im Laden vom Onkel.“
Hanser
Die deutschen Arbeitgeber_innen wollen keine Ausländer_innen beschäftigen. Das ist nicht nur bei Hazal so, sondern auch bei ihren Freundinnen Gül, Ebru und Elma. Da helfen alle Bewerbungstrainings der Welt nichts, wenn man aussieht, wie man eben aussieht, stellen Hazal und Elma im Kaffeehaus fest, nämlich nicht „deutsch“:
„Und was ist mit der Kanakenfresse gibt es auch irgendwelche Tricks für das Foto?“
„Klar, das kann man photoshoppen“, sage ich und muss kichern- „Oder nein: Man schminkt sich einfach ab.“
Elma unterdrückt ein Lachen. „Was?“
„Deutsche gehen doch immer ungeschminkt zur Arbeit.“
„Stimmt wieso eigentlich?“
„Na, weil die doch bessere Haut haben, wegen dem Biozeug und so.“
Warten, bis das Leben beginnt
Hazal wartet eigentlich nur. Bis das echte Leben beginnt, bis sie machen kann, was sie will. Weil türkische Mädchen eigentlich nichts dürfen. Jetzt steht Hazals 18. Geburtstag vor der Tür. Für den hat sie Geld aufgestellt, will offziell bei einer Freundin übernachten und endlich einmal in einen Club gehen. Nur sind die türkischen Mädchen im Club nicht willkommen: zu geschminkt und in Highheels statt in schmutzigen Turnschuhen unterwegs. Der Türsteher weist sie ab. Hazal sitzt stocksauer in der S-Bahn.
Die Gesichter um uns herum, sie sind alle satt. Sie haben Ziele, die sie ansteuern, Türen, sie sich für sie öffnen. (…) Sie besitzen Kram, sie verreisen, sie schlafen in Doppelbetten mit ihren Liebhabern, die ihnen morgens Kaffee kochen, sie lesen nicht die Bild-Zeitung, sie kaufen nicht bei Primark, sie haben Ansprüche und Abschlüsse und Jobs und sie besitzen schwere hölzerne Pfeffermühlen.
Dann kommt noch ein besoffener Student auf dem Bahnsteig dazu und die Wut eskaliert. Alle Ellbogen, mit denen sie sonst von der Gesellschaft herumgeschubst werden, fahren die Mädchen aus, schlagen zurück. Mit fatalem Ausgang.
Bradley Secker
Keine Antworten
Fatma Aydemir ist Redakteurin bei der taz und schreibt außerdem für die Spex und das missy magazin. Im Nachwort zu ihrem ersten Roman "Ellbogen" schreibt sie, ihre Fragen seien im Laufe des Schreibens nicht weniger geworden. Und tatsächlich: „Ellbogen“ ist kein lösungsorientierter Roman, es gibt keine Antworten. Beschrieben wird eine Situation, in der man als türkisches Mädchen kaum Chancen bekommt und wenn, dann nur, wenn man überangepasst und leistungsbereit ist. Und ansonsten fest sitzt zwischen Familie und deutscher Gesellschaft, die eine nicht haben will.
Am Horizont winkt noch die Türkei als Lösungsoption, in diesem Fall in Gestalt eines jungen Mannes namens Mehmet, der Hazal erklärt:
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„Er nannte es ein Missverständnis, dass er in Deutschland geboren sei, mit dem Namen Mehmet. Weil da gar kein Platz war für ihn. Weil alle Stühle besetzt und alle Lücken ausgefüllt waren. (…) Er sagte, für ihn sei es so als habe er sein ganzes Leben lang durch eine verschmierte Linse gesehen, und plötzlich, als er mit leeren Händen, gebrochenem Türkisch und ohne Freunde in Istanbul stand, war die Linse sauber."
Nur kommt mit dieser Linse dann Erdogan ins Bild, der Umbau der Türkei in Richtung autoritärer Staat. Und damit ist auch diese Lösungsoption wieder keine besonders gute.