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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

8. 3. 2017 - 09:00

"Die sind alle emanzipiert"

In Nadine Kegeles Buch "Lieben muss man unfrisiert" erzählen 19 Frauen und Transgender-Personen von ihrem Selbstverständnis und Rollenbildern im Jahr 2017.

In den Siebzigern war die in Wien Hernals geborene Autorin Maxie Wander mit einem Tonbandgerät in der DDR unterwegs und hat neunzehn Frauen zu ihrem Alltag, ihren Wünschen und Sorgen befragt. Daraus ist das Buch "Guten Morgen, du Schöne" entstanden.

Buchcover "Lieben muss man unfrisiert" von Nadine Kegele

Kremayr & Scheriau

"Lieben muss man unfrisiert" ist bei Kremayr & Scheriau erschienen. Mit einem Vorwort von Marlene Streeruwitz

Knapp 40 Jahre später fällt ein Exemplar davon Nadine Kegele in die Hände. Sie liest es, ist begeistert und beschließt dieses Buchprojekt mit neuen Porträts zu aktualisieren. Also besorgt auch sie sich ein Aufnahmegerät und lässt Frauen und Transgender-Personen von heute zu Wort kommen.

"Fast alle haben zunächst gesagt, ich hab' doch nichts Interessantes zu erzählen", sagt die 36-jährige Autorin im Interview. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall.

Da schildert etwa eine 92-jährige ehemalige Bürokauffrau, warum sie ihr zweites Kind doch nicht abtreiben ließ oder eine 16-jährige Schülerin, wieso es schade sei, "dass sich mehr schwule Männer Friseur trauen".

"Es gab auch Aussagen, die ich natürlich nicht hören wollte", so Kegele, und erwähnt Michaela, die erste Porträtierte im Buch, die sich selbst als Putzfrau bezeichnet, obwohl sie in Serbien zur Chemikerin ausgebildet wurde. "Michaela hat gesagt, Frauen können einfach besser putzen. Das ist mir erst sauer aufgestoßen, aber sie hat eine Begründung dafür und auch sie ist emanzipiert. Die sind alle emanzipiert."

Maxie Wander (1933-1977) war eine österreichische Schriftstellerin, Journalistin, Fotografin und Drehbuchautorin. Ihr bekanntestes Werk ist "Guten Morgen, du Schöne" (1977). Darin sind Porträts von 19 Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft versammelt. Es gehört zum Genre der Protokollliteratur, in der dokumentarisches Material, in Wanders Fall Tonbandaufnahmen, zu literarischen Texten verarbeitet wird.

Nadine Kegele hat den Duktus und die verschiedenen Lebenswelten ihrer Interviewpartner*innen gut eingefangen. Sie selbst tritt in den von ihr redigierten Monologen höchstens als lauschendes Gegenüber und in Form von indirekten Fragen in Erscheinung. So wirkt es, als würde jede*r Leser*in persönlich angesprochen.

Wie haben sich Rollenbilder verändert

Themen, die in erstaunlich vielen von Nadine Kegeles Porträts auftauchen, sind sexuelle Übergriffe oder die Angst davor, Existenzängste und finanzielle Abhängigkeit, der Kampf mit dem Gewicht und gegenseitiges Bewerten.

Ist das der anti-feministische Backlash? Wie kann es sein, dass wir nach wie vor in einer Zeit leben, in der Gewalt gegen Frauen alltäglich ist und der US-Präsident und Abgeordnete im EU-Parlament offen frauenfeindliche Aussagen treffen können? Und wenn ohnehin jede Generation aufs Neue um Emanzipation kämpfen muss, inwieweit haben sich Rollenbilder in den letzten 40 Jahren dann überhaupt verändert?

Nadine Kegele

Pamela Rußmann

Nadine Kegele

"Der Kampf um die Emanzipation hat andere Formen angenommen", sagt Kegele. "War es in den Sechzigern für viele Frauen eine Befreiung die Pille zu nehmen, ist heute manchmal genau das Gegenteil der Fall." Und weiter: "Ich fand ja schon Maxie Wanders Porträts sehr emanzipiert. Da kamen viele Frauen aus der DDR zu Wort, die ihr Kind ganz selbstverständlich in die Krippe gegeben haben, weil sie eben arbeiten gingen. Aber in den neunzehn Porträts bei mir ist sehr viel mehr Erfahrung zu Gender und dem Sprengen von Heteronormativität vorhanden, bzw. überhaupt erst der Möglichkeit dazu. Das war im Buch 1977 natürlich nicht der Fall. Da hat sich zum Glück viel weiterentwickelt und allein dafür ist die Neubefragung wichtig gewesen."

Nadine Kegele, geboren 1980 in Bludenz, lebt und arbeitet in Wien. Nach einer Bürolehre und mehreren Jahren als Sekretärin hat sie Germanistik, Theaterwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie schreibt u.a. für den Standard und die Obdachlosenzeitung Augustin. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten, darunter den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2013. Im Jahr darauf erschien ihr Debütroman "Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause".

Die Auswahl ihrer Gesprächspartner*innen hat Nadine Kegele sehr bewusst getroffen. Als sie feststellte, dass sie erst viele weiße heterosexuelle Frauen befragt hatte, viele davon zudem Akademikerinnen, hat sie "die Notbremse gezogen" und dafür gesorgt, dass auch Transgenderpersonen, "Mädchen aus der Arbeiterklasse" und Menschen mit Diskriminierungs- oder Rassismuserfahrung im Buch vertreten sind. Sie alle haben ihre Interviews vor dem Druck gegengelesen und etwaige Missverständnisse mit der Autorin besprochen. Der offene Umgang mit gesellschaftlichen Tabus wie Aggressionen gegen die eigenen Kinder oder sexuelle Belästigung war Kegele dabei besonders wichtig.

Viele der Befragten weisen zudem darauf hin, welche Macht Sprache im Kontext geschlechtlicher Selbstbestimmung hat. Es macht etwas aus, "wenn Frauen bloß 'mitgemeint' sind", bemerkt z.B. die lesbische Scheidungsanwältin Mitte 40, und die Transperson Frana nimmt langen Debatten um Binnen-I und genderneutrale Personalpronomen den Wind aus dem Segel, indem sie lakonisch feststellt: "Nach ein bisschen Üben ist man's gewöhnt".

Die neunzehn Texte in "Lieben muss man unfrisiert" sind so voll von Witz, Erfahrung und starken Positionen, dass man beim Lesen ganz unwillkürlich beginnt, über sich selbst nachzudenken. Welche Rolle möchte ich im Leben übernehmen? Welche Privilegien, blinde Flecken oder strukturelle Nachteile habe ich? So kann sich jede*r sein ganz persönliches Porträt Nummer 20 dazudenken.