Erstellt am: 7. 3. 2017 - 14:26 Uhr
Die Droge namens Leben
Es ist wieder mal typisch: ich plane meine Weiterreise von Rio de Janeiro am Morgen des Tages, an dem sie stattfinden soll. Ich will auf die dschungeldurchwachsene "Ilha Grande", die genau auf meinem Weg nach Santos bei Sao Paulo liegt. "Wird sich schon irgendwie ausgehen!" - so mein Credo. Als ich meinen Kaffee schlürfe und zwischen den Websites von Fähre und Bus surfe, wird mir klar: entweder ich breche in 25 Minuten auf oder ich verpasse die letzte Fähre zur Insel und darf das Dreifache für ein Speed Boat zahlen. Zu dem Zeitpunkt ist es etwa 9h Früh, der Inhalt meines 9kg Rucksacks liegt malerisch in der Wohnung meines Gastgebers verstreut und ich habe noch nicht mal geduscht. Hm. Was jetzt? Das geht sich doch niieeee... Blödsinn! Ich schalte den Superheldinnenmodus ein, sprinte ins Badezimmer und finde mich eine Stunde später am weitläufigen Busbahnhof wieder.
Als ich endlich den Schalter der richtigen Linie finde, kommt das Erwachen: außer mir wollen noch sechzig andere Personen ein Ticket kaufen. Selbstbewusst gehe ich an der Schlange vorbei direkt zur Kassa und frage, ob es einen Express-Schalter für Leute wie mich gibt. Der Mann hinter der Scheibe versteht weder mein improvisiertes Pseudo-Portugiesisch noch Englisch. Als er mich darauf hinweist, dass ich mich genauso anzustellen habe wie alle anderen auch, mache ich ein ahnungslos-unschuldiges Gesicht. Ich will DIESEN Bus in zehn, nein: acht Minuten und keinen anderen. Ohne Übersetzer wird das nix. Hilfesuchend drehe ich mich um - und da steht er: Darian. Ein gut aussehender junger Mann, braungebrannt, offenes Hemd, abgeschnittene Jeans und eine pfiffige Frisur. Und diese warmen, leuchtenden Augen. Ohne zu zögern setzt er sich mit einer Inbrunst für meine Fahrkarte ein, als würde es um seine eigene gehen. High Five! Fünf Minuten später werfen wir unsere Rucksäcke ins Gepäckfach.
Valerie Kattenfeld
Während der sechsstündigen Anreise haben wir genug Zeit, uns kennenzulernen. Darian ist Argentinier, sechsundzwanzig Jahre alt, studiert Psychologie in Cordoba und arbeitet nebenbei als Kellner. Mit dem Rucksack macht er eine Rundreise durch Brasilien. Wir teilen uns das Taxi zur Fähre und meine Erdnüsse. Es ist schön, zur Abwechslung mal einen Travelbuddy zu haben!
Wir kommen in dem kleinen Ort Abraao an und sind angetan. Eine Entspanntheit ist hier zu Hause. Leute schlendern im Badekostüm über sandige Straßen, Verkäufer locken mit Kokoswasser, das man mit Strohhalm direkt aus der Nuss trinken kann. Neben uns der kleine Hafen und im Hinterland der üppige Dschungel. Dazu viele kleine Bars und Restaurants. Hinter dem Schleier der Harmlosigkeit verbergen sich schmerzhafte Preisspitzen: zwei Nächte im Sechsbettzimmer kosten mich 80€. Das bedeutet: Sparen beim Essen ist angesagt und so kochen Darian und ich uns Spaghetti mit Mais und Tomatensauce.
Valerie Kattenfeld
Später gehen wir auf eine Party des Hostels Aquario, das in der Nähe des Hafens liegt. Die Tanzfläche ist noch leer, die Leute trudeln erst langsam ein. Draußen am Steg erzähle ich Darian von meinem Aufenthalt in Israel. Von den beiden Soldaten, die ich am ersten Abend in einer Bar getroffen habe. Die beiden haben sich im Krankenhaus kennengelernt; der eine hat mir seine Narben am Oberkörper gezeigt, der andere - Desaei aus Äthiopien - ein Video von sich am Laufband mit seiner Beinprothese. Desaei hat mich vor allem aufgrund seiner Lebenseinstellung beeindruckt. "Egal, was passiert - ich behalte mir immer mein Lächeln." hat er zu mir gesagt.
Als ich Darian diese Geschichte am Steg vom Aquario erzähle, öffne ich damit eine Tür zu einem Zimmer, in das ich noch nie hineingesehen habe. Die Metapher von dem Zimmer kommt aus Darians Selbsthilfegruppe: dort sprechen sie von jedem Menschen wie von einem Haus. "Stell dir vor, du bist ein Haus und du hast viele Zimmer. In einem Zimmer ist deine Familie. In einem Zimmer ist dein Lieblingshobby. Und in einem Zimmer ist deine Krankheit. Sei dir bewusst, dass deine Krankheit nur eines von vielen Zimmern ist. Sie ist nicht das ganze Haus."
Darian ist seit acht Jahren HIV positiv. Als er mir das in einem Nebensatz offenbart, bin ich fassungslos. Er? Der sportliche, blendend aussehende junge Mann neben mir? Der so viel lacht und nur so vor Energie und Tatendrang strotzt? Sofort wird mein bisheriges Bild von HIV-Infizierten - schwach, depressiv und zurückgezogen - einem Reality Check unterzogen. Darian ist das genaue Gegenteil. Ich erfahre, dass HIV längst kein Todesurteil mehr ist. Mittlerweile sind die Medikamente so gut, dass Infizierte die selbe Lebenserwartung wie Nicht-Infizierte haben. Darian nimmt jeden Abend Pillen, die seine Abwehrkräfte stärken und die Ausbreitung des Virus im Zaum halten. Er nennt sie seine "Drugs of Life". Und tatsächlich scheint ihn erst die Krankheit so richtig zum Leben erweckt zu haben. "Ich habe mich von falschen Freunden gelöst, von denen ich viel schlechte Energie empfangen habe. Ich mache immer das, worauf ich Lust habe. Ich esse gesund, ich mache Sport. Ich genieße." Und gelegentlich raucht er auch. Ob wir uns eine Zigarette teilen möchten? Ich zögere. Ist das nicht gefährlich? Nein, HIV ist definitiv nicht über Speichel übertragbar. "Wir könnten uns sogar küssen oder eine Zahnbürste teilen." erläutert er und fügt lachend hinzu: "aber das wäre echt eklig!"
Wir rauchen eine gemeinsam. Und teilen uns dazu einen Caipirinha. Und dann noch einen. Und tanzen bis drei Uhr Früh bevor wir uns gemeinsam auf den Weg zurück in unser Hostel machen.
Valerie Kattenfeld
Am nächsten Tag beschließen Darian und ich, die Insel zu erkunden und wir machen uns auf den Weg zu dem Traumstand Lopez Mendez. Ein dreieinhalbstündiger Weg führt uns durch den Dschungel. Ich liebe es. Die Vielfalt der Fauna, die Palmen, die Bananenpflanzen, die wuchernden Wurzeln, die aus dem Boden ragen. Wir sehen riesige rote Ameisenhügel, machen Schnappschüsse im Bambuswald und rasten auf Steinen. Dazu das Summen der Mosquitos und das penetrante Zirpen der Grillen. "Bei uns zu Hause sind sie manchmal so laut, dass wir schreien müssen, um uns zu unterhalten!" lacht Darian, der mir ständig drei Meter voraus ist.
Während des Spaziergangs haben wir viel Zeit zum Reden. "Du kannst mich alles fragen", ermuntert er mich. Er hat sich dafür entschieden, nicht im Stillen an seiner Infektion zu leiden, sondern damit raus zu gehen. "Out of the closet!" ist sein Motto. Deshalb möchte er auch, dass ich ihn namentlich in meinem Blog nenne und sein Foto zeige. Finde ich unglaublich mutig von ihm. Sich aus Scham zu isolieren ist eine Gefahr, deshalb braucht es Menschen wie ihn. Damit jemand den 36,7 Millionen weltweit Betroffenen symbolisiert: ihr seid nicht allein.
In Österreich sind es 8000, die mit dem HI Virus leben und jeden Tag steckt sich etwa eine Person neu an.
Darian war achtzehn Jahre alt, als er sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit seinem Freund infiziert hat. Dieser hatte ihm seinen gesundheitlichen Zustand verschwiegen. Etwas, das Darian niemals machen würde. Er legt die Karten immer offen auf den Tisch; spätestens dann, wenn es gefährlich werden könnte. Nach der Diagnose hat es zwei Jahre gedauert, bis er zurück in ein normales Leben gefunden hat. "Natürlich geht man durch die Hölle, natürlich trauert man, heult, zieht sich zurück. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass nur ich an der Situation was ändern kann. Nicht an der Krankheit selbst, aber daran, wie ich damit umgehe."
Valerie Kattenfeld
Das war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Das bedeutet für Darian, dankbar zu sein für alles, was ist. Immer im Moment sein. Und immer auf seine innere Stimme zu hören. Wenn er heute von jemandem aufgrund seiner Infektion zurückgewiesen wird, denkt er: das ist dessen Problem, nicht meines. Es kann eben nicht jeder damit umgehen und viele lassen sich immer noch durch ihre Ängste und Vorurteile bestimmen.
Daran, dass Darian seine große Liebe treffen wird, hat er sowieso keine Zweifel. Als wir endlich am schönsten Strand der Ilha Grande angekommen sind, lege ich mich in die Sonne, während er auf die Felsen klettert. Ein mystischer Ort, an dem man stundenlang zusehen könnte, wie sich die Wellen brechen, zischen und aufschäumen. Er ist ziemlich lange weg. Als er wieder kommt, strahlt er: "Ich hab jemanden kennen gelernt!"
Valerie Kattenfeld