Erstellt am: 24. 2. 2017 - 20:13 Uhr
Der rote Byelection Blues
Das Geständnis zu Beginn: Ein großer Teil meiner jüngsten Abwesenheit von diesen Seiten erklärt sich aus einem Österreich-Aufenthalt zwecks Genuss winterlicher Privilegien.
Ich formuliere das hier gerade so, weil mir heute in dem sozialen Medium mit dem blauen Spatzen ein Vertreter der nordenglischen Linken erklärt hat, EU-Bürger_innen, die für ihre Aufenthaltsrechte demonstrierten, setzten sich bloß für ihre "persönlichen Privilegien" ein, während die EU in ihrem institutionalisierten Rassismus zehntausende Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen lasse.
Ein Vorwurf, der sich besser lesen würde, wenn er nicht
a) von jemand gekommen wäre, der als britischer Bürger selbst Rechte besitzt, die er bei anderen als "Privileg" bezeichnet,
b) der britische Staat und auch die britische Linke ernsthafte Anstalten zeigten, auch nur einen Bruchteil der Ersaufenden zu retten oder der nicht Ersoffenen bei sich aufzunehmen. Doch darauf, sagt mir mein privilegierter Blickwinkel, dürfen wir noch lange warten.
Aber immerhin, wieder was über die britische Linke gelernt, und wie sie tickt. Wie tief der britische exceptionalism in ihrer Denke sitzt.
Die Diskussion ergab sich übrigens aus meinem Kommentar zu einem Tweet, der Demonstrant_innen für die Rechte von EU-Bürger_innen ein herzhaftes "Fuck off" und "Go home" entgegen schleuderte.
Unter anderem, weil sie es gewagt hatten, EU-Fahnen zu ihrer Demo mitzunehmen. Symbole des institutionalisierten Rassismus also.
Und weil sie es gewagt hatten, ihren Beitrag zur Gesellschaft als Argument für ihr Aufenthaltsrecht herauszustreichen.
Robert Rotifer
Den Gedanken, dass das eine wenig hilfreiche Unterscheidung zu "unwürdigen", weil wirtschaftlich unproduktiven Einwander_innen herstellt, hätte ich auch wieder nachvollziehen können.
Wäre es nicht ein Brite, der da aus der Position der eigenen Sicherheit den in ihrem Aufenthaltsrecht bedrohten Nichtbriten das Heimgehen anordnete.
Und das geht beim besten Willen gar nicht.
Robert Rotifer
Aber ich hatte ja diese Woche bereits schon einmal EU-Fahnen wehen sehen, die im derzeitigen isolationistischen Brexit-Kontext eben ganz was anderes bedeuten. Und zwar gemeinsam mit "Refugees Welcome Here"-Bannern und auf den geplanten Staatsbesuch des US-Präsidenten abzielenden Anti-Trump-Transparenten.
Ich war nämlich am Montag in Canterbury nach der Rückkehr von einem Ausflug nach London einer zum "One Day Without Us"-Streiktag der Migrant_innen veranstalteten Demo über den Weg gelaufen. Sowas kommt in unserer in Sachen politischer Aktivismus eher verschlafenen Stadt nur ganz selten vor.
Robert Rotifer
Interessanterweise liefen dabei nicht nur ein paar Leute in Labour-Westen mit, sondern auch solche, die sich mittels Transparent als Vertreter_innen der örtlichen linken Momentum-Tendenz auswiesen, die bis vor kurzem noch geschlossen hinter der Linie von Parteichef Jeremy Corbyn stand.
Sie hatten offensichtlich kein Problem mit den EU-Fahnen, aber schon eher mit der derzeitigen Anbiederung Labours an den von der Presse vielbeschworenen "will of the people" des unumkehrbaren Brexit.
Robert Rotifer
Allerdings, so geht hier immer noch der Konsens, das muss ich wieder einmal betonen, nachdem mir in Österreich wieder einmal die kontinentale Erwartung unterkam, dass die Brit_innen es sich doch bald wieder anders überlegen könnten.
Auch das sehr nachvollziehbar, zumal sich bereits mit zunehmender Klarheit der kommende Verlauf der Brexit-Verhandlungen abzeichnet:
Ein ausgedehnter Streit über Großbritanniens bei Austritt ausständige EU-Beiträge (an die 60 Milliarden Euro), gefolgt von einem hektischen Gerangel um einen Interims-Deal, dem dann alle 27 anderen Staaten zustimmen müssen, damit Britannien nicht von einem Tag auf den anderen auf den harten Boden der wirtschaftlichen Isolation herabfällt.
Robert Rotifer
Es gibt Leute in der Labour-Linken, die glauben, dass sich in diesem Fall ein neues globalisierungsfreies gelobtes Land errichten und dazu noch das Bahnnetz rückverstaatlichen lassen wird.
Es gibt aber auch Leute, die sich die Flut herbei wünschen, auf dass sie unsere sündige Welt reinigen möge.
Andere wieder würden meinen, dass die Labour Party sich dereinst nicht von dem Desaster distanzieren wird können, dem sie mit ihrer Brexit-Befürwortung im Unterhaus auf den Weg geholfen haben wird.
Das findet sogar der dem Brexit zugeneigte "Postcapitalism"-Autor Paul Mason, der in dieser Analyse hier ironiefrei den Ausdruck "left nationalists" verwendet.
Robert Rotifer
Sein Blog gilt den gestrigen By-Elections (lokale Neuwahlen) in den Sitzen Stoke-On-Trent und Copeland.
Ersterer Sitz gehörte dem Zentristen und Historiker Tristram Hunt, der es spannender fand, der nächste Direktor des Victoria & Albert-Museums zu werden, als im Unterhaus zu sitzen.
Zweiterer einem gewissen Jamie Reed (nicht zu verwechseln mit Jamie Reid), der meinte, er könne seiner Community nützlicher sein, wenn er einen führenden Job in der örtlichen Nuklearwiederaufbereitungsanlage Sellafield annimmt.
Robert Rotifer
Diese Tendenz von Labour-Parlamentariern, ihren demokratischen Auftrag für zweitwichtig zu erklären, kam Labour gestern in den Wahllokalen sicher nicht zu Hilfe, aber die Ergebnisse der Urnengänge in den beiden nordenglischen Wahlkreisen waren doch bezeichnend verschieden.
In Copeland gewannen zum ersten Mal seit 1935 die Tories, unter anderem, weil es gelungen war, Corbyn als Feind der Nuklearindustrie darzustellen. In Stoke dagegen hielt sich Labour gegen die Herausforderung des UKIP-Chefs Paul Nuttall.
Letzterer war jüngst vom eindeutigen Favoriten zur Witzfigur abgestiegen, nachdem seine Behauptungen, 1989 Zeuge der Katastrophe im Hillsborough-Stadion gewesen zu sein, als Fabrikation entlarvt worden waren.
Robert Rotifer
Wie Nuttall ohne diese fatale Lüge abgeschnitten hätte, werden wir nie wissen, aber es lohnt sich anzumerken, dass der gegen ihn siegreiche Labour-Kandidat Gareth Snell einmal in einem Tweet den Brexit als "einen massiven Haufen Scheiße" bezeichnet hatte.
Sicher, er ist seither auf die Parteilinie des bestmöglichen Brexit eingeschwenkt. Trotzdem sollte die Labour-Führung die Annahme, dass sich in ihren nördlichen Working Class-Kerngebieten nur mit purer Brexit-Gläubigkeit was gewinnen lässt, vielleicht einmal überdenken.
Erstens, weil die Liberaldemokrat_innen mit ihrer entschiedenen Anti-Brexit-Linie nach ihrem Wahlsieg im wohlhabenden Richmond nun auch im Norden etwas zulegen konnten.
Und zweitens, weil sich die populäre Behauptung, die Mehrheit der Labour-Wähler_innen im Norden habe für Brexit gestimmt, als grober Unsinn herausstellt.
Laut Daten des Wahl-Analysten John Curtice kamen nämlich auch dort die Brexit-Mehrheiten nur durch die Stimmen der Wähler_innen anderer Fraktionen zustande.
Landauf landab muss sich die Labour-Basis also von der Führung Jeremy Corbyns entfremdet fühlen.
Robert Rotifer
Statt das einzusehen gab Corbyns Intimus, der Schattenschatzkanzler John McDonnell, heute Tony Blairs umstrittener Anti-Brexit-Intervention letzte Woche die Schuld für Labours schlechtes Abschneiden in Copeland.
Das klingt mit Verlaub dann schon eher nach Bunker-Mentalität.
Aber zurück hinaus auf die Straße:
"Warum marschieren Sie nicht mit?", fragte mich eine Labour-Aktivistin beim Anti-Brexit-Marsch in Canterbury am Montag.
"Ich bin eh dabei", sagte ich. Ich ginge bloß nur immer auf die Seite, um Fotos zu machen. Darüber hinaus hätte ich als Einwanderer aus Österreich ein unmittelbares persönliches Interesse an der Sache.
"Aha", sagte sie, "Und es gefällt Ihnen bei uns besser?"
"Bisher", sagte ich wahrheitsgemäß.
Sie schien kurz ein bisschen vor den Kopf gestoßen, aber dann überlegte sie es sich doch anders: "Ja, klar. Deshalb sind wir ja heute hier."
Gut gemeint, aber selbst bei diesem Anlass ging es offenbar nicht ohne den Unterton der britischen Überzeugung von der eigenen überlegenen Zivilisation ab.
Die süße Selbsttäuschung des exceptionalism eben.
In einem Land, das gerade vorgeführt hat, dass es nicht einmal des Wahlsiegs einer rechtspopulistischen Fraktion bedarf, um deren großes Projekt zur Regierung und Opposition vereinenden Staatsräson zu machen.