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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

22. 2. 2017 - 15:57

Verwüstete Körper, geschundene Seelen

Franzobels neuer Roman dampft und spritzt: "Das Floss der Medusa"

Der Fernsehfilm, der mit "nach einer wahren Begebenheit" angekündigt wird, ist meistens einer der schmalztriefenden Sorte. Erzählt die Geschichte vom großen Überwinden einer leidvollen Erfahrung. Am Ende darf man sich über den menschlichen Triumph freuen.

Franzobel, die großkünstlerische Pfauenfeder der österreichischen Literatur, hat einen neuen Roman geschrieben: "Das Floss der Medusa". "Roman nach einer wahren Begebenheit" steht darin geschrieben. Auch in "Das Floss der Medusa" geht es um Leid. Um sehr viel Leid. Sehr viel.

Weltberühmt ist das gleichnamige Gemälde von Théodore Géricault, das 1819 eine der größten Katastrophen der Schifffahrtsgeschichte verewigte. Von dieser Katastrophe handelt Franzobels Roman.

Im Jahre 1816 segelte die französische Fregatte Medusa von Frankreich Richtung Senegal und lief vor der Küste Westafrikas auf Grund.

Die Rettungsboote boten bei Weitem nicht ausreichend Platz für die gesamte Besatzung und alle Passagiere – auf einem 8 mal 15 Meter großen, notdürftig zusammengetackerten Floß wurden 147 Menschen ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Zwei Wochen später wurde das Floß von einem anderen Schiff auf See entdeckt. Besatzung: 15 Überlebende.

Das FLoss der Medusa

Paul Szolnay Verlag

"Das Floss der Medusa" von Franzobel ist im Zsolnay Verlag erschienen.

"Als der Kapitän noch nach einer Erklärung suchte, sah er eine taumelnde Gestalt. Sie stellte sich an den Rand der Plattform, bog den Kopf nach hinten und…ja, kein Zweifel, der Mann urinierte - so wie es aussah, in die Hand und… ja, das gibt's doch nicht, er trank das Zeug."

Franzobel geizt in seinem Roman nicht mit ausladenden und gerne deftigen Beschreibungen. 600 Seiten lang. Dampfendes Fleisch, Eingeweide, Blut, Kot. In den Darreichungsformen "Brocken" und "Partikel". Unsympathische Personen werden da schon einmal als "paniertes Arschloch" bezeichnet.

Der völlig unzureichende Proviant auf dem Floß, wie es heißt zwei Fässer Wein, drei Fässer Wasser, ein Sack Zwieback, ist schnell aufgebraucht. Nach nur zwei Tagen werden die Überlebenden vom Kannibalismus übermannt.

Messer werden in Körper gebohrt, Flüssigkeiten fließen, Gedärme glänzen. Schnell ist die Grenze zum Wahnsinn überschritten, "Das Floss der Medusa" erzählt die Geschichte vom menschlichen Verfall, der körperliche wie der psychische.

"Als man nahe genug war, sah man hohle Augen, das Gestrüpp stacheliger Bärte, ausgedörrte Lippen, trocken wie Pergamentpapier. Verbrannte Schultern, abgeschälte Haut, alles voller Wunden, Blasen."

Zwar eröffnet der Roman mit einem kurzen Zeitsprung in die Zukunft der erzählten Geschichte, zur Bergung des Floßes, dann aber lässt sich Franzobel lange Zeit bis er zur genauen Schilderung der Katastrophe kommt. Davor entwirft er ein reiches, mal blühendes, meistens stinkendes Panorama und erweckt das Zeitkolorit Anfang des 19. Jahrhunderts zu prallem Leben.

Wir erfahren von politischen Rahmenbedingungnen, hören vom Krieg und werden detailreich in die Schifffahrt eingeführt. Segel, Technik, Holz, Material. Ein üppiges Personal tummelt sich in "Das Floss der Medusa". Soldaten, Kapitäne, Matrosen, Schiffsärzte, Offiziere, Krankenpfleger, Gouverneure, Gouverneurstöchter. Hier entsteht ein vielstimmiges Geflecht, in dem sich ganze Welten abspielen: Zweifel, Gottesfurcht, Angst, Pein, der nackte Wunsch zu überleben.

Franzobel

Dirk Skiba/Paul Zsolnay Verlag

Franzobel

"In Hoseas Kopf irrlichterten Bilder vom Floß, von der azurblauen See und vom Senegal. Er sah Eingeborene mit samtiger dunkler Haut, bunt gekleidete Frauen, den Kapitän der Medusa und immer wieder Leichen, zerschnittene Körper, tranchiert wie filet de boef und Savigny, der von verschiedenen, mit Urin gefüllten Blechtassen kostete und dabei wie ein Sommelier Grimassen schnitt."

Bei allem Gräuel, bei allem Tod und bei allem Schorf und Eiter blitzt in "Das Floss der Medusa" immer wieder leiser Humor durch. In den Dialogen, im Tonfall des allwissenden Erzählers, der die Geschichte auch immer naseweis kommentiert, im Umgang der Figuren miteinander.

Immer wieder kippt Franzobel leicht ins Surreale, wenn sich der Erzähler beispielsweise aus der Zeitebene der Geschichte - in die man schon mit Haut und Haaren versunken war - herausbegibt und meint, in einer Verfilmung des Stoffes müsste doch Gérard Depardieu eine Hauptrolle spielen.

Spannung, Abscheu, Niedergang und Witz. Die Fragen nach Moral und den Voraussetzungen für Zivilisation, verpackt in ein opulentes Buch, das vor Leben vibriert - und zittert.

"Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als zweihundert Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt sowas nicht vor. Doch ist das wirklich so?"