Erstellt am: 18. 2. 2017 - 12:17 Uhr
Schönheiten aus dem Giftschrank
So ein Umzug kann eine ganz schön nervenaufreibende Sache sein. Besonders wenn man, wie der Verfasser dieser Zeilen, in einer Art Popmuseum wohnt, wo gefühlte Tonnen von Zeitschriften, Platten, Büchern, DVDs und monströses Spielzeug aller Arten lagern. Auch wenn die neue Wohnung mit allerlei Vorzügen lockt, sie ist entschieden kleiner und das heißt, sich brutal von liebgewonnenem Zeug zu trennen.
Fuchs/FM4
Als ich unlängst dann zwischen Umzugskartons, Godzilla-Figuren und Stapeln von vergilbten Musikmagazinen hockte, wanderte mein Blick auf meine Filmsammlung. Befindet sich darin auch nur ein einziges Werk, in dem ein Mensch nicht auf gewaltsame Weise ums Leben kommt? Besitze ich wirklich nur Sex'n'Crime-Movies, Horrorstreifen, nachtschwarze Thriller, Science-Fiction-Schocker und Italowestern? Nein, da stehen auch etliche Komödien und Lieblingsstreifen wie "Lost in Translation", in denen einfach die pure Sehnsucht regiert.
Aber im Großen und Ganzen und betrachtet aus dem Blickwinkel einer konventionellen Gegenwartsmoral würde ich mein DVD- und Bluray-Regal als Giftschrank bezeichnen. Passend zur Bücherwand daneben, wo verfemte, verpönte und in verschiedenem Grade durchgeknallte Autoren dominieren. Und natürlich besitze ich unzählige Filmbücher über, ja genau, Kino, das am Rande des Abgrunds wandelt. Weil es dort, an diesem schwindelerregenden Punkt, zwar gefährlich zugeht. Aber, und das ist der der Hintergrund meiner Obsessionen, eben auch herrlich unberechenbar, geheimnisvoll und berauschend.
Fuchs/FM4
Die Bibel für den unterschlagenen Film
Apropos aussortieren: Während ich es mental geschafft habe, mich auch von besonders wertvollen Schätzen im Printmedien-Bereich zu verabschieden, wird eine verblichene Zeitschrift komplett mitübersiedelt. Die Rede ist vom legendären "Splatting Image", das in den Archiven der neuen Wohnung einen Ehrenplatz bekommt.
Okay, gestattet mir dazu eine kleine Zeitreise, Papa erzählt jetzt ein wenig vom Krieg. Es gab nämlich tatsächlich einmal eine Ära vor dem Internet, vor Blogs, Streamingplattformen und BluRays. Wer bizarre, wilde, seltene Filme liebte, musste sich aus obskuren Quellen VHS-Kassetten davon besorgen, analoge Zweit- oder Drittkopien, die manchmal schon verrauscht und farblos daherkamen. Wollte man aber überhaupt etwas über die Existenz bestimmter italienischer Giallo-Thriller, spanischer Untoten-Reißer oder blutverschmiertem Actionkino aus Asien erfahren, zog man Fanzines zu Rate. Das waren meist handkopierte Hefte, geschrieben von Filmgeeks für Filmgeeks.
Das essentiellste Fanzine im deutschen Sprachraum, professionell gedruckt und angenehm streng gelayoutet, wurde in Berlin herausgeben. "Splatting Image", mittlerweile eingestellt, entwickelte sich in den 90er Jahren zur wahren Bibel für den "unterschlagenen Film", zumindest im deutschsprachigen Raum. Wer sich selber einen kleinen Giftschrank zusammenstellen wollte, voller filmischer Arzneimittel, vor denen Jugendschützer aller Arten warnten, kam an den unregelmäßig erscheinenden Ausgaben der "Splatting Image" nicht vorbei.
Fuchs/FM4
In den Sumpflandschaften des Kinos
Drei Autoren sind einem beim Verschlingen der ungezügelten Texte dabei immer besonders aufgefallen. Marcus Stiglegger, einer der originellsten und mutigsten deutschsprachigen Filmwissenschaftler, erwies sich als Spezialist für "das Strenge", was sich auf seine Lieblingsregisseure ebenso umlegen ließ wie auf in vielen beschriebenen Filmen vorkommende sexuelle Praktiken.
Irrlichternde Ausnahmeregisseure wie Andrzej Zulawski und dessen surrealen Meilenstein "Possession" analysierte der gebürtige Österreicher in klugen, aber niemals trockenen Worten. Man spürte, dass der akademisch geschulte Stiglegger, der eine Vergangenheit in der Gothic-Szene hat, stets für seine Themen brannte, ziemlich lichterloh, würde ich sagen.
Scheinbar am anderen Ende des schreiberischen Spektrums tummelte sich in der "Splatting Image" der Autor Christian Keßler. Um keinen Deut weniger leidenschaftlich als Marcus Stiglegger verpackte er seine herrlich abseitige Filmbesessenheit allerdings in staubtrockenen Humor. Via Reiseführer Keßler konnte man seitenlang durch die bisweilen trüben Sumpflandschaften des Exploitationfilms stapfen, wo es nach Blut, Sperma, Eingeweiden und männlichem Regieschweiß roch und wo einige heutige US-Studenten mit ihren Trigger Warnings und Safe Spaces Panikattacken bekommen würden - und schmunzelte dabei unentwegt.
Martin Schmitz Verlag
Exkursionen ins Abseits der Filmgeschichte
Ebenfalls aus dem Umfeld der legendären "Splatting Image" nicht wegzudenken: Der Regisseur Jörg Buttgereit ("Nekromantik"), Insidern mittlerweile längst auch als Verfasser grandioser Hörspiele, als Theatermacher und Comic-Autor bekannt. Irgendwo in der Mitte zwischen dem philosophisch angehauchten Marcus Stiglegger und dem Wortwitz von Christian Keßler angesiedelt, schrieb er manchmal auch voller morbider Komik über die härtesten Filme.
Vor kurzem haben die drei mittlerweile etwas reiferen Herren aus dem ehemaligen Filmunderground wieder einmal neue Bücher herausgebracht. Und was soll ich sagen, sie sind allesamt höchst lesenswert. Dr. Stiglegger, längst Uniprofessor, schreibt in "Grenzkontakte" über "Exkursionen ins Abseits der Filmgeschichte".
Am Beispiel von Streifen von Mario Bava, Dario Argento, Michael Mann oder Bruno Dumont formuliert er einen Zugang zum Kino, wo es statt um Popcorn-Entertainment um lustvolle, körperliche, bisweilen lebensverändernde Erfahrungen geht: "Ein solcher kinematographischer Grenzkontakt erhellt unser Leben wie ein Gewitter den nächtlichen Himmel. Energie fließt frei und chaotisch. Durchströmt unseren Körper. Dringt über Netzhaut und Trommelfell ins Innerste vor."
Fuchs/FM4
Christian Keßler widmet sich in "Das versteckte Kino“ obskuren Schätzen aus dem "cineastischen Nirvana". Willkommen zu einem filmischen Reigen voller Amokläufer, Zombies, Kannibalen, religiöser Fanatiker, Hippies, Häftlinge und Racheengel. Alleine schon die Titel der ganzen Kapitel - "Ungern in Ungarn", "Der öffentliche Nahtodverkehr" oder "Einer flog über das Christusnest" - darf man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Die Bücher von Marcus Stiglegger, Christian Keßler und Jörg Buttgereit sind im Martin-Schmitz-Verlag erschienen.
Der Bildungsauftrag, den Keßler sehr (un-)ernst nimmt, lautet dabei: "Was einst zu Unrecht verschmäht wurde und jenseits von Hollywood landete, kommt jetzt auf die Showbühne, um endlich den wohlverdienten Ruhm einzuheimsen." Was auch durchaus zu Jörg Buttgereit passt, der seinen kleinen Essayband "Besonders Wertlos" nennt, es aber natürlich gegenteilig meint. Der Berliner, dem wir Filme über das romantische Verhältnis zu leblosen Körpern ebenso verdanken wie Hörspiele über "Sexmonster" und "Die Bestie von Fukushima" versammelt Texte, die er zuvor in verschiedenen Filmzeitschriften veröffentlichte. Und schwärmt darin auf ungemein charmante und lakonische Weise von Supermännern in Strumpfhosen, dem 60. Geburtstag von Godzilla oder Begegnungen mit Filmgrößen wie Udo Kier, George Romero oder Christopher Lee.
Fuchs/FM4
Drei Bücher jedenfalls, die Lust auf eine ganz spezielle Art von Kino machen, dem man sich heute nur mehr auf speziellen Retro-Festivals oder im eigenen Wohnzimmer nähern kann. Filme, manchmal gedreht von bankrotten und ethisch korrupten Regisseuren, die den Trend zu Blut und Nacktheit schamlos ausnutzen wollten - und ganz nebenbei verstörende Prunkstücke erschufen - oder auch von echten Genies, die wegen ihrer Durchgeknalltheit aber keine Chance hatten, in den Cineasten-Kanon aufgenommen zu werden. Filme, die es heute nicht mehr gibt, die heftig wehtun, sinnlos Spaß machen, ernsthaft Grenzen verschieben. Schönheiten für den Giftschrank eben.