Erstellt am: 13. 2. 2017 - 17:05 Uhr
The daily Blumenau. Monday Edition, 13-02-17.
#protestsongscontest
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die bisherige Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
Siehe auch Wir haben einen Sieger! und Protest vong Contest her sowie FM4-Protestsongcontest.
ES beginnt - wie so oft - mit einem Übertragungs-Fehler.
Im deutschsprachigen Raum versteht man nämlich unter Protestlied das, was im angloamerikanischen Raum (und dort wurde diese zeitgemäße Musik-Spielart erfunden) als topical song gilt: die Kommentierung politischer/sozialer Realitäten. Der protest song, der sich nicht nur in der Beschreibung erschöpft, sondern eine soziale Veränderung einfordert, umfasst nur noch einen Teilbereich des topical songs. Der wiederum entspräche eigentlich dem Begriff des Politischen Lied, das allerdings sowohl durch die Instrumentalisierung durch das DDR-Regime als auch durch eine Vereinnahmung durch die außerparlamentarische Linke sowie zuletzt durch die extreme Rechte keinerlei aktuelle Bedeutung mehr besitzt.
DIE deutschsprachige, vor allem die österreichische Tradition des Protestliedes sitzt zwischen all diesen Stühlen. Und das ist das Problem.
Brauers Vorrede im Wortlaut: "Das ist ein beinhartes Protestlied. Allerdings richtet sich die Kritik nicht gegen eine bestimmte Gruppe, sondern gegen jedermann der sich betroffen fühlt - auch gegen mich selbst."
DER große Arik Brauer etwa, der sein "Köpferl in Sand" mit den seither geflügelten Worten "Das ist ein beinhartes Protestlied" einleitet, beschreibt in diesem ikonischen Stück die bitterböse Wirklichkeit - gänzlich ohne Aufforderung. Das ist ein künstlerisch legitimer und weit verbreiteter Zugang, der sich bis hin zum Kino des Ulrich Seidl (der auch beobachtet, aber weder kommentiert noch wertet) erstreckt.
TENDENZIELL wird im deutschsprachigen Raum, vor allem aber im definitionsschwachen und hochpragmatischen Österreich also jedes Lied mit irgendwie politischem Inhalt zum "Protestsong" aufgeladen. Das ist ein bissl damit vergleichbar, dass sich jeder, der einen Social-Media-Hate-Post abführt, als wichtigen Teil der Zivilgesellschaft versteht: es herrscht ein gänzlich falsches Selbstverständnis.
DA es deutlich schwieriger und aufwändiger ist einen topical song, ein Protestlied zu verfassen und performen als einen 140 Zeichen-Schnellschuss loszulassen, stellen sich diese Fragen immer erst dann, wenn hunderte solche Lieder aufeinandertreffen.
Einmal im Jahr. Beim Protestsongcontest, den der Rabenhof und FM4 seit 2004 ausrichten.
UND es sind diese vielen sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Zuschreibungen, die jede/r Einzelne von/an einem/n Protestsong hat/stellt, die in der Folge immer wieder die erstaunlichsten Debatten auslösen. Auch für einen Juror stellen sich immer neue, immer weitere Fragen.
Zum Beispiel:
Wenn ein Protestsong also über die rein deskriptive Ebene hinausgehen muss - wie weit denn?
Reicht eine destruktive Zustandsbeschreibung, braucht es konstruktive Ansätze?
Ist Hate-Speech schon Protest?
Sind Begriffs-Aneinanderreihungen noch Protest?
Sind Attacken auf öffentliche Personen schon Protest?
Ist das Nachbeten von Verschwörungs-Theorien noch Protest?
Ist Ironie, also als Kritik getarnte Ausstellung der Tatsache, dass man's selber besser weiß und kann, außerhalb eines Kabarett-Mainstreams, in dem das die Grundverfaßtheit ist, akzeptabel?
Ist Protest, ist die sprachlich möglichst genaue Bearbeitung von Anliegen nur in der Muttersprache möglich?
Ist unser aller Englisch gut genug?
Muss auch die Musik den Protest widerspiegeln?
Und wenn ja, sind hier Zitate oder Ironie zulässig?
Überhaupt: Wie umgehen mit Zitaten?
Wie umgehen mit Bearbeitungen historischer Texte?
Können einzelne, brillante Zeilen einen dramaturgisch schwachen Text retten?
Ist es fair, sich an schwachen Zeilen, Vergleichen, Bildern abzuarbeiten?
Sind zu viele poetische Bilder schlecht?
Ist schlichtes Sloganeering schlecht?
Außerdem: Was zählt die Performance eines Stückes? Bringen wilde Kostümierungen und blanker Aktionismus zusätzliche Ebenen?
Muss HipHop mit Live-Schlagzeug kommen oder reicht eine ausproduzierte Musikbett-Zuspielung auch?
Gibt es Bonuspunkte für möglichst viele MusikerInnen auf der Bühne?
Ist das Stück, das sich im Vorfeld, nach Veröffentlichung der 25 Besten im Kopf festgesetzt und dort Bilder erzeugt hat, das Beste?
Ist das Stück, dessen Live-Performance im Halbfinale am nachdrücklichsten dahergekommen ist, das Beste?
Ist das Stück, das im Finale die meiste Wucht entwickeln konnte, das Beste?
ES sind allesamt Fragen, die ich für mich beantworten musste, die meisten davon innerhalb der drei Stunden dauernden Veranstaltung gestern Abend. Und nichts davon ist unverrückbar.
My choice:
1. Tombadour
2. Danyàl
3. Shapka (great drumming, vielleicht hätten sie mit dem famosen Luftinstrumenten-Konzert des Halbfinales gewonnen)
4. Seralox (great drumming/talking)
5. Post Period (great drumming/singing)
lässige Typen:
1. Fichtenharz (Danke fürs Heimbringen)
2. Permaneder (Danke fürs Gespräch)
3. Badmandi & die Rootzbuam feat. Holy Moly (Danke fürs Am-Klo-Vorlassen)
4. Mieze Medusa & Tenderboy
Auch cool (im Vorfinale)
1. Rotzpipn
2. Laura Rafetseder
3. Symbiotika
4. Mary Broadcasts Gitarrensound
DER Sieger, die Sympathiebombe Danyàl, war mein Zweitgereihter, weil seine musikalische Umsetzung sich deutlich mehr im Hier und Jetzt bewegt als die der allermeisten anderen, weil sein Text gut formulierte, herzensstarke und poetische Bestandsaufnahme und Aufforderung gleichzeitig ist (auch das im Gegensatz zu fast allen anderen) und weil er keine Text/Musik/Bühnenpersonality-Schere aufwies. Und auch weil seine Rap/Pop-Mischung schweres Crossover-Potential hat, hinein in den Mainstream, der die Erhellung dringender braucht, als die Eh-Schon-Wissenden.
MEIN Sieger ist "Mein Land" von Tombadour, weil hier die extrem präzise, fast schon unheimlich treffende Beschreibung unserer Gegenwart sowohl über die Emotion als auch auf der Meta-Ebene daherkommt, weil die Argumentation in sich stimmig schwingt (und auch gut mit der ungewöhnlichen Instrumentierung - Jazz-Piano, Ragga-Beats - kommuniziert) und weil das zentrale Thema sich in der griffigsten aller Hooklines bündelt: Mein Land ist Einbahn/dein Land ist Einbahn. Besser traurig als einsam.
DASS wir derzeit alle auf der Einbahnstraße in Richtung nicht-so-lässig unterwegs sind - weder was den Erhalt des Lebensraums noch die Form unserer gesellschaftlichen Organisation betrifft - setze ich einmal als bekannt voraus.
DER dahinterstehende Treibstoff, nämlich die große gesellschaftliche (mittlerweile fast schon globale) Einigung darauf, lieber traurig als einsam zu sein, ist bestenfalls verschüttet-emotionales Wissen. Es ist die Art Traurigkeit, die Elvis hier beschrieben hat: I get lonesome right in the middle of a crowd. Es ist die Art von Traurigkeit, die zu der schlimmsten aller Depressionen führt, der kollektiven Depression. Dabei geht es nur darum, die Momente der Einsamkeit zu minimieren, die Momente, in denen wir auf uns selbst zurückgeworfen sind, und in denen uns plötzlich Gedanken an Grundlegendes und Existenzielles überfallen.
WIR sind die erste Generation, die das - mit Hilfe der digitalen tools - kollektiv wegblenden kann; wir scheuen die echte Einsamkeit und laufen damit Gefahr inmitten den Masse zu vereinsamen, also als Stück Treibholz im reißenden Strom zu enden. Mitten in der Einbahn.
DIESE Geschichte erzählt "Mein Land".
Das eignet sich nicht für Demo-Lautsprecher oder Party-Chants, es ist also nicht Ton, Steine, Scherben - aber, ehrlich jetzt, nichts seit Ton, Steine, Scherben war jemals so gut wie Ton, Steine, Scherben, nichts vereinte Poetik, Lebensliebe, widerständigen Gestus, Slogan-Stärke und musikalische Kraft so genuin und so mächtig. Es wird an vielen, vor allem jenen, die in der kollektiven Traurigkeit schon so bequem feststecken auch vorbeischwirren müssen.
ES ist aber gleichzeitig auch ein Lied, ein Stück Musik und Text, das genau das tut, was es anmahnt: die Möglichkeit für kurze Einsamkeit bietet, für ein kurzes Sich-Einlassen, und damit die Chance auf ein Stück Selbsterkenntnis. Damit hat es mich erwischt, im Vorfeld, nach dem ersten Hören. Und das ist dann der topical song, der protest song, das Protestlied, das politische Lied, das ich am meisten schätze dieser Tage: ein Stück mit einem Stück Erkenntnisgewinn.