Erstellt am: 4. 2. 2017 - 14:04 Uhr
Alles Menschenmögliche
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Literaturempfehlungen und Porträts von AutorInnen
"Yanagiharas Roman kann dich verrückt machen, verschlingen und von deinem Leben Besitz ergreifen". Dieses Lob und diese Warnung spricht ein Kritiker des New Yorker einem Buch aus, das jetzt in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Es heißt "Ein wenig Leben", stammt von der Autorin Hanya Yanagihara und Stephan Kleiner hat es hervorragend aus dem Englischen übersetzt. Worum geht es? Um vier Männer und ihre Freundschaft.
Wer sich nach heilen Welten sehnt oder vielleicht auf die eine oder andere Intrige hofft, für den ist "Ein wenig Leben" nichts. Das gleich vorweg. Es ist ein wunder, schwarzer Punkt, der sich nach den ersten paar hundert Seiten leise bemerkbar macht und zu einem Schmerz anwächst, mit dem man so nicht gerechnet hat und bei dem man sich fragt, ob man das überhaupt will.
Jenny Westerhoff
Jude, Jean-Baptiste, Willem und Malcom leben in den USA der letzten Jahrzehnte und kennen einander aus ihrer College-Zeit. Was mit einem Wohnungsumzug und gemeinsamen Essen beginnt, wird zu einer Emanzipationsgeschichte. Denn Jude ist zwar der intelligenteste der vier Freunde, aber seine Vergangenheit ist ein Geheimnis. Jude ahnt, dass zumindest Willem etwas ahnt, auch wenn der ihn dazu nicht befragt.
"Trotzdem. Der Verdacht blieb und war manchmal von einer unangenehmen Intensität, so als wäre es unvermeidlich, dass er schließlich etwas sagen würde, als empfinge er Botschaften, die zu ignorieren anstrengender war, als ihnen zu gehorchen."
Hanser Berlin
Ein Gotteslob der Freundschaft
Der Hauptcharakter Jude St. Francis ist eine Hiobs-Figur und das Buch wird zur Biografie dieser fiktiven Persönlichkeit. Jude ist ein Schmerzensmann, der Anwalt wird und wie nebenbei ein begnadeter Mathematiker ist, aber er bleibt zu lange ein von Männern sexuell missbrauchter und gequälter Bub. Da sind die Krämpfe in den Beinen, die tiefen Schnittwunden an den Armen des erwachsenen Mannes und die Blutlachen im Badezimmer. "Ein wenig Leben" ist ein "Gotteslob der Freundschaft", wie es FM4-Literaturchefin Zita Bereuter auf den Punkt bringt.
Es ist Hanya Yanagiharas Erzählstil, der verhindert, dass die Geschichte jemals banal wird. Gerade durch die drastischen Beschreibungen des Erinnerns an sexuelle Gewalt und noch mehr durch das subtile Beschreiben der Auswirkungen des Missbrauchs auf ein ganzes Leben wird das Buch zu einer großen Erzählung des Menschenmöglichen. Die Gegenwart ist nie frei von der Vergangenheit, eine Kindheit in Geborgenheit kann trotz aller Kalendersprüche nicht nachgeholt werden und auch die größte, unerschütterlichste Liebe stößt an ungeahnte Grenzen.
"Wenn sie abends im Bett lagen, schwiegen sie jetzt, statt sich wie sonst zu unterhalten, und ihr Schweigen lag wie eine dritte Kreatur zwischen ihnen, riesengroß und pelzig und bösartig, wenn man sie aufstörte.
Am vierten Abend konnte er es nicht länger ertragen, und nachdem sie etwa eine Stunde lang stumm nebeneinandergelegen hatten, rollte er sich über die Kreatur hinweg und schlang die Arme um Willem. 'Willem', flüsterte er, 'ich liebe dich. Vergib mir.'"
So wird Vergangenheit schließlich abgearbeitet, zumindest wird der Versuch unternommen. "Ein wenig Leben" ist ein großes Sehnen und Ringen um Liebe. Und nichts anderes ist innige Freundschaft. Die Metaphern Yanagiharas sind wunderbar. Da machen etwa Erinnerungen Jagd wie ein Rudel Hyänen, es fließt Licht wie Honig in die Nacht und ein Gefühl von Glück und Dankbarkeit breitet sich in der Brust aus wie ein Ozean. Und da ist Willem, der es mit Jude aufnimmt und zur zweiten Hauptfigur wird.
Hanya Yanagihara wurde für "Ein wenig Leben" mehrfach ausgezeichnet, der Roman hat es auf die Shortlist des Man Booker Prizes geschafft. Zu ihrem Debütroman "The People in the Trees", der noch nicht in deutscher Fassung vorliegt, gibt es in "Ein wenig Leben" eine große Parallele: Auch im Erstling war sexueller Missbrauch von Buben durch Männer Thema.
Wer schreibt so etwas?
Ihre eigene Biografie hält Hanya Yanagihara für unerheblich, geht es um ihre Bücher. Würde sie Sachbücher schreiben, wären Informationen zu ihrer Person klar dienlich. Trotzdem wird man nach dem Lesen ihrer Bücher neugierig und findet ein, zwei Interviews, die voll spannender Details sind. 1976 in Los Angeles geboren, zieht Hanya Yanagihara mit ihrer Familie mehrfach um. Honolulu, New York, Baltimore, eine Kleinstadt in Texas und schließlich nach dem College selbst gewählt zurück nach New York. Yanagiharas Vater ist Arzt und eine befreundete Pathologin zeigt dem Mädchen Hanya Leichen, damit sie die zeichnet. Im gleichen Alter beginnt sie zu schreiben. Neben ihrer Autorenschaft arbeitet Yanagihara heute für das Reise- und Stilmagazin T der New York Times.
Ist man beim vierten und letzten Kapitel von "Ein wenig Leben" angelangt, bestellt man sich "The People in the Trees" und hofft, dass Hanya Yanagihara bereits an ihrem dritten Roman schreibt.