Erstellt am: 6. 2. 2017 - 15:00 Uhr
Im Tuschel-Simulations-Hotel
Ich liebäugle damit, die Startup-Szene aufzumischen und eine Tuschel-Simulations-Hotelkette zu gründen. Um meine neueste Geschäftsidee zu erläutern, muss ich ein bisschen ausholen:
Es gibt wenige kinderspezifische Aktivitäten, die ich vermisse. Manchmal werfe ich lieben Freunden einen Schneeball ins Gesicht, um graue Wintertage zu würzen. Kleine Bastelarbeiten bieten mir als Ausgleich zu meinem regen Berufsleben Zerstreuung. Und auch zu einer Runde Fangen oder Versteckenspielen zwischendurch sage ich selten nein. Ansonsten bin ich recht zufrieden damit, erwachsen zu sein und hauptsächlich Erwachsenentätigkeiten wie Arbeiten oder Geldausgeben nachzugehen.
Der Spieltrieb anderer Erwachsener scheint dagegen wesentlich besser erhalten geblieben zu sein als der meinige. Promeniert man durch die Parks, sieht man zahlreiche Eltern, die ihre Kinder bei der Freizeitgestaltung nicht bloß beaufsichtigen, sondern mit ihnen spielen. Graubärtige Herren mit Tretrollern, verblühende Damen auf Wippen und Rutschen und kugelbäuchige Gentlemen in Sandkisten, wohin man blickt.
Vielleicht denken diese spielwütigen Erziehungsberechtigten, ihre Brut würde besser gedeihen, wenn sie mit ihr gemeinsam rutschen und schaukeln.
Dieser Zugang darf bezweifelt werden. Ich war jedenfalls als kleines Kind immer schon ausgesprochen froh, nicht mit Erwachsenen spielen zu müssen.
mc
Eine zweite Möglichkeit ist, dass gar keine pädagogische Absicht hinter der Mitspiel-Begeisterung so mancher Jungeltern steckt, sondern dass sie tatsächlich gerne mit Apfelscheiten in der Tupperbox und Disneymützen am Haupt ihrem Nachwuchs durch den Gatsch hinterherkriechen. Vielleicht, weil sie im Rahmen ihres Heranwachsens nicht hinreichend zum Spielen gekommen sind und das Versäumte jetzt nachholen möchten?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass meine eigene Sehnsucht nach der Kindheit sehr schwach ausgeprägt ist. Nicht, weil sie übel gewesen wäre. Im Gegenteil! Aber nach jahrelanger Unbekümmertheit erfreue ich mich heute sehr an der herausfordernden Bekümmertheit der Gegenwart.
Nur eines vermisse ich ein bisschen. Nämlich eine zauberhafte Form der Abendgestaltung, die man im Erwachsenenalter leider nicht mehr erleben kann.
Ab der frühen Adoleszenz überlassen es Eltern ihren Kindern zusehends selbst, wann sie zu Bett gehen und wann sie dort ihre Äuglein schließen. Ab dem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr lassen sich Jugendliche den Zapfenstreich einfach nicht mehr diktieren. Wenn sie unvernünftig sind, die ganze Nacht Battlefield zocken und tags darauf im Raucherhof stehend einschlafen, sind die Eltern machtlos und hoffen einfach, dass sie “es” schon irgendwann lernen werden.
Als Kind dagegen muss man zu einer bestimmten Uhrzeit schlafen gehen. Das fällt manchen Kindern leichter, andere brauchen ausführliche Lektüre oder eine Überdosis Benjamin Blümchen (der elefant terrible), um müde zu werden. Wenn der Schulbeginn eine regelmäßige Tagwache vorgibt, fügen sich die Gschroppn der Schlafenszeit meist recht brav.
mc
Manchmal darf aber auch ein anderes Kind beim eigenen übernachten. Oder das eigene bei einem anderen. Und dann viel Spaß mit “Um neun ist das Licht aus”.
Das Licht mag aus sein um neun, aber die unartigen Kinder schlafen natürlich längst noch nicht, sondern plaudern lauthals, als gäbe es kein Morgen. Die Erwachsenen hören die hellen Stimmen durch die Zimmertüre, öffnen diese um halb zehn und sagen: “So. Ihr könnt gerne noch ein bisschen flüstern, aber dann wird geschlafen.”
Kurz flüstern die Kinder, werden aber schnell undiszipliniert und plaudern wieder so laut wie zuvor. Um dreiviertel zehn steht wieder ein Erwachsener in der Tür und sagt, schon etwas strenger, dass morgen Schule sei und bittet die Kinder, jetzt aber wirklich zu schlafen.
Die beiden Lauser bemühen sich kurz tatsächlich, einzuschlummern, doch nach zwei Minuten furzt einer und beide müssen sehr lachen. Und sie lachen und lachen, was die Erwachsenen bis ins Wohnzimmer hören, wo sie sich zu einem Evergreen der Eltern-Phrasen hinreißen lassen und feststellen, dass die zwei “heute recht überdreht sind”.
Es folgt eine weitere Ermahnung. Die beiden Schlingel mögen jetzt bitte ruhig sein und wirklich SOFORT einschlafen. Sollte noch ein Wort ihre Kehlchen verlassen, setze es “ein Donnerwetter”.
Kaum ist der strenge Erwachsene außer Hörweite, müssen die beiden Frechdachse erst recht kudern. Mehrere Lachkrämpfe folgen.
Die nächste Visite lässt nicht lange auf sich warten. Um halb elf geht die Türe erneut auf.
Dieses Mal stellen sich die beiden Lachwurzn schlafend. Sie simulieren sehr schlecht. Der eine atmet viel zu schnell, der andere schnarcht übertrieben laut.
Der Erwachsene bleibt stur in der Türe stehen.
Nach zehn Sekunden wird das falsche Spiel der beiden Simulanten von leisem Kichern abgelöst.
“Glaubt ihr wirklich, dass ich so blöd bin?”
Der Erwachsene ist jetzt schon ziemlich genervt.
mc
Er sagt kein weiteres Wort und stampft böse davon.
Die Kinder erkennen langsam den Ernst der Lage und kommen auf die Idee, ganz nahe zusammenzurücken, um durch besonders leises Flüstern nicht noch einmal den Groll der Erwachsenen auf sich zu ziehen.
Sie flüstern und tuscheln und munkeln. Das eine Kind erzählt eine Schauergeschichte. Das andere irgendwas vom letzten Sommer. Und so flüstern und tuscheln und munkeln die beiden noch über eine Stunde weiter, ganz leise, und es liegt ein feierliches Gefühl in der nachtschwarzen Luft, und die zwei Kleinen fühlen sich groß. Weil ihre List zu funktionieren scheint. Weil sie so eisern flüstern. Und weil sie einander zuhören und sich nicht auslachen, selbst als das eine Kind gesteht, dass es sich eigentlich ganz schlimm fürchtet in der Dunkelheit, wenn es alleine ist. Da hat das andere Kind Mitleid. So sehr, dass es nochmal aufs Klo muss.
Ganz vorsichtig schleicht es sich aus dem Zimmer.
Das eine Kind liegt im Bett und hofft, das andere würde nicht zu lange wegbleiben, weil es sich ja fürchtet alleine im Dunkeln. Aber es wird nicht lange wegbleiben.
“SCHLAFT IHR NOCH IMMER NICHT?!”, erschallt von fern der wütende Erwachsene.
Dann ist die Stimmung dahin. Beide liegen noch zehn Minuten schweigend da und schlafen um Mitternacht endlich ein.
Ich wünsche jedem, dass auch er als Kind viele solcher Nächte erlebt hat. Und ich sehne mich manchmal danach zurück, noch heimlich mit jemandem im Bett zu tuscheln. Das ist eine Kommunikationsform, die einem später leider nicht mehr zuteil wird.
Natürlich steht es einem frei, das Bett jederzeit mit Tinder-Matches, Ehepartnern oder Friends with benefits zu teilen und ganze Nächte durchzuflüstern. Aber heimlich und verstohlen? Verbotenerweise? Nein. Es kommt ja niemand und schimpft!
Weil ich mir sicher bin, nicht alleine zu sein mit meiner Sehnsucht nach jenen unschuldigen Nächten des Einfach-nicht-schlafen-Wollens, spiele ich also wie eingangs erwähnt mit dem Gedanken, eine Tuschel-Simulations-Hotelkette zu gründen.
In den Zwei- bis Fünfbettzimmern können sich Gäste unter der Bedingung einmieten, pünktlich um neun das Licht auszumachen und zu schlafen. Mehrere Kontrolleure patrouillieren durch die Flure, lauschen an den Türen und ermahnen die Gäste zuerst gütig, dann streng und später barsch, dass sie nun “aber wirklich schlafen müssen”. Die Konsequenzen für wiederholtes Fehlverhalten reichen von “Sonst werde ich wirklich grantig” bis zum Frühstücksentzug.
Ich bin überzeugt, dass die Atmosphäre in den Zimmern schnell von wohliger Nostalgie geprägt wäre. Und dass es genug zu tuscheln gäbe!