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Lisa Schneider

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11. 2. 2017 - 06:00

Gott ist ein Hippie

Auch wenn er in "Das Leben nach Boo", dem Debütroman des kanadischen Schriftstellers Neil Smith, "Zig" heißt.

"Habt ihr euch schon mal gefragt, liebe Eltern, womit sich die Engel im Himmel die Zähne putzen? Ich kann es euch sagen. Mit doppeltkohlensaurem Natron, das wir auf unsere Zahnbürsten streuen. Es schmeckt ein bisschen salzig, was nicht weiter verwunderlich ist, weil doppeltkohlensaures Natron, genauer gesagt Natriumkarbonat, eine Art Salz ist."

FM4 Buch

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Hier spricht Oliver Dalrymple, kurz „Boo“ genannt. Den Spitznamen haben ihm seine Highschool-Kollegen gegeben, weil sein Äußeres gespenstisch blass scheint. Schon während seiner Schulzeit hat es der dreizehnjährige Oliver als Außenseiter und Wissenschafts-Nerd nicht wirklich einfach. Und dann beginnt der Roman über sein Leben – bzw. Nachleben, auch noch mit der unmittelbaren Katastrophe: Boo stirbt, direkt vor seinem Schulspind, an einem Herzfehler.

Das Leben nach dem Leben

Er erwacht im Himmel wieder, bzw. wird dieser von den Bewohnern als „Stadt“ bezeichnet. Von nun an richtet er Briefe an seine Eltern.

Dieser Himmel ist ein verrückter Ort: Es leben hier ausschließlich 13-Jährige AmerikanerInnen, niemand ist älter oder jünger. Kommt jemand Neues an, wird also „wiedergeboren“, bekommt er einen Helfer – der selbstverständlich auch 13 Jahre alt ist – zur Seite gestellt. Nach einer Eingewöhnungsphase müssen schließlich aber, trotz gleichbleibenden Alters, Jobs wie BibliothekarIn, Koch/Köchin oder StraßenarbeiterIn ausgeführt werden. Es gibt ein sehr hässliches Gebäude, das ein Gefängnis beherbergt, es gibt eine Abteilung für die „Depris“ (die, die ihren Tod oder die Umstände dessen nicht gut verkraftet haben, sprich eine Psychiatrie), ebenso wie Schulen und ein Kuriositäten-Museum.

Zig sei Dank

Cover "Das Leben nach Boo"

Schöffling & Co

Es gibt für das Cover des Romans elf verschiedene Entwürfe. Zufällig auch eines in den FM4-Farben.

"Das Leben nach Boo" ist in einer deutschen Übersetzung von Brigitte Walitzek bei Schöffling & Co erschienen.

Weitere Leseproben gibt es hier.

Zäune, die abbrechen und Gläser, die eingeschlagen werden, wachsen von selbst wieder zusammen – und genauso ist es auch mit dem menschlichen Körper. Boo probiert es selbst aus und schlitzt sich mit dem Lineal den Arm auf, einige Stunden später ist vom Schnitt nichts mehr zu sehen. Das Schrägste aber ist der Monotheismus, der von allen gelebt werden muss:

"Jedenfalls ist unser Gott meiner Meinung nach absolut kein Wissenschaftler, sondern ein exzentrischer Hippie mit künstlerischer Ader. Wir nennen ihn Zig, weil das hip und groovy klingt."

Von Spiritualität im Himmel zu reden, wäre zu dick aufgetragen: Vielmehr huldigen alle 13-Jährigen (ob sie wollen oder nicht) dem kommunistisch angehauchten Oberhaupt Zig. Er ist es auch, der durch Lieferung bestimmter Güter an die Lagerhäuser die ganze Stadt versorgt – mit Dingen, von denen er denkt, sie seien angemessen. Die Städter glauben an Zigs Güte – aber auch an seine Bestrafung, wenn sie etwas Falsches machen. Das Ganze wirkt wie ein großes Umerziehungsritual: Zig schickt Romane, Schallplatten und Sportgeräte – aber keine Fernseher, Telefone oder gar Geschirrspüler. Außerdem lebt der Himmel vegetarisch: Es gibt weder Insekten in der Luft noch Schnitzel am Teller. Nur ab und zu verirrt sich einmal eine Kakerlake, oder ein Welpe, durch ein sogenanntes Portal – das einen Weg in die irdische Welt bedeutet – in den Himmel.

Es war nicht dein löchriges Herz...

Die 13-Jährigen „Städter“, wie sie sich nennen, sind auf unterschiedliche Weise gestorben. Manche waren krank, manche wurden vom Schulbus erwischt – andere wiederum wurden kaltblütig erschossen. Boo denkt, sein löchriges Herz, das schon bei seiner Geburt attestiert wurde, hätte seinem kurzen Leben ein Ende gesetzt, während er noch dabei war, das Periodensystem ein weiteres Mal auswendig aufzusagen. Doch kurz nach seiner Ankunft im Himmel wird ein zweiter Junge seiner Schule, Johnny Henzel, ebenfalls wiedergeboren.

Zu Schulzeiten hatten die beiden wenig miteinander zu tun, jetzt teilen sie sich ein Zimmer in einem der klassischen Bauten im Himmel: vorzustellen in etwa wie ein betonverliebter Plattenbau aus den 70ern, wenig verziert, und gar nicht dekadent.

"Manche Bewohner glauben, die Stadt sei nichts anderes als ein riesiges Terrarium und wir alle seien im Grunde genommen nur Labormäuse. Sie fragen sich, ob in einem Terrarium weiter südlich dreizehnjährige Mexikaner leben, und in einem weiter nördlich dreizehnjährige Kanadier."

Johnny ist es auch, der Boo mit einer grausamen Erkenntnis vertraut macht: Sie beide wären nicht aufgrund körperlicher Insuffizienz gestorben, sondern erschossen worden. Die Suche nach „Gunboy“, dem Mörder der beiden, beginnt – und entwickelt sich anders, als anfangs erwartet.

Sad story, happy telling

Neil Smith

Julie Artacho

Autor Neil Smith

Gerade mit diesen Mordszenen und auch der sehr brutalen Verurteilung mancher Straftäter in der „Stadt“ bricht Neil Smith mit der sonst lebhaft-lieblichen Erzählung. Und hier fließt Autobiografisches ein: Neil Smith schrieb schon in einer Geschichte des mehrfach ausgezeichneten Bandes „Bang Crunch“ über seine unmittelbaren Erlebnisse des Massakers an der Université de Montréal, bei dem der 25-jährige Marc Lépine vierzehn Studentinnen erschossen hat. Diesmal verschiebt Smith das Setting in die Highschool, und neben dem brutalen Mord geht es vor allem um Mobbying und die psychische Gesundheit des Täters.

Es ist die Erzählweise von Protagonist Oliver, der die Geschichte vor inhaltlicher Tristesse bewahrt, und sie ähnlich einer Fabel mit lehrreichen Schlüssen ausstattet: Er beschreibt seinen Tod und Dinge, über die andere wohl weinen würden, in trocken-wissenschaftlicher Beobachtung. Wie dann, wenn er zum Beispiel über seine bevorzugte Art zu sterben sinniert.

"Wäre ich selbst auf einer Forschungsreise in die Arktis an dem Loch in meinem Herzen gestorben und im ewigen Eis beigesetzt worden, würde es mir nichts ausmachen, Jahrhunderte später von Wissenschaftlern ausgegraben und als Anschauungsobjekt in einer Vitrine ausgestellt zu werden. Tag für Tag in einem Naturkundemuseum zu verbringen, wäre für mich das Paradies."

Die 13-Jährigen im Himmel bleiben 50 Jahre lang dort – was danach mit ihnen passiert, wissen auch sie selbst nicht.

Das schreit ja fast nach einem Fortsetzungsroman.