Erstellt am: 28. 1. 2017 - 10:06 Uhr
Fear, Anger, Love
Vielleicht ist die allerschlimmste Winterzeit in Berlin bald vorbei. Immerhin ist es zur Zeit bis halb 5 am Nachmittag noch taghell, bald ist wieder Berlinale und danach kommt bekanntlich der Vor-Vor Frühling nach Berlin.
CTM Festival
Berghain, HAU, HKW und weitere Orte
Fr 27.1- S0 5.2.
Und am Freitag begann Anfang Berlins bestes und innovativstes Musikfestival "Club Trransmediale, Festival for Adventurous Music and Related Visual Arts" kurz "CTM" genannt. Wer sich für neue, riskante, experimentierfreudige Popmusik in Verbindung mit Video, Performance und Installation interessiert und Musik hören will, die er noch nie gehört hat, der bekommt in den CTM- Tagen ein exquisites Programm geliefert.
Die CTM bietet zuverlässig einen schön kuratierten Querschnitt und Einblick in die Welt der eleganten Vermischung von Pop und Avantgarde, von Kunst und Theorie, von radikalen Klängen und Störgeräuschen. Wie jedes Jahr hat die CTM auch 2017 ein alle modernen Diskurse mitdenkendes Oberthema.
CTM
War es letztes Jahr die "Welt im Umbruch", die musikalisch erforscht wurde, so stehen dieses Jahr die guten alten Emotionen Angst, Wut und Liebe in der Überschrift. Unter dem Titel FEAR ANGER LOVE will die CTM den Fokus auf die verschiedenen Formen und Strategien von Emotionen in und durch Musik legen und so den komplexen (musikalischen) Vermittlungsprozessen zwischen Körper, Affekt und Politik nachspüren.
Mit besonderen Projekten und Auftragswerken, mit Performances, einem diskursiven Tagesprogramm und Augenmerk auf die Vielfalt zeitgenössischer Musikgeographien jenseits des Mainstream, sollen nichts weniger als die Potenziale (musikalischer) Emotion zwischen Ressentiment und emanzipatorischer Politik erkundet werden.
Unter dem Titel Fear Anger Love geht die CTM 2017 zugleich den drängenden Fragen der Zeit nach: Wie gehen wir mit Emotionen um, die uns verstören, und wie mit denjenigen, die so empfinden? Was unterscheidet einen emanzipatorischen von einem reaktionären, den demokratischen von einem antidemokratischen Umgang mit Emotionen? Woran erkennen wir echte Emotionen und woran ihre strategische Nutzung? So fragt das Programmheft mit großen Worten.
Besuchsstrategien
Die geneigte Festivalbesucherin verschreckt wie jedes Jahr der erste Blick aufs CTM-Programm. Diese Fülle an Musik-Sets, offenen Ateliers, Installationen, Konzerten und Aktionen, Talks, Panels, Live-Performances und Guerilla-Events, Workshops und Screenings macht ein bisschen hilflos. Aber das sind ja auch schon mal starke Gefühle: Schreck und Hilflosigkeit. Und so sortiert man am Besten erst einmal die verschiedenen Orte des Festivals: Der Eröffnungsabend im HAU (Hebbel am Ufer), die Konzerte im Berghain und im Heimathafen Neukölln, die Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg, die Abschlussparty im Schwuz.
Und passend zum Trumpschen Mauerbau hat die diesjährige Transmediale ein besonderes Augenmerk auf das schöne Mexico gerichtet. Die Ausstellung "Critical Constellations of the Audio-Machine in Mexico" im Kunstraum Kreuzberg ist eine Zusammenarbeit mit dem Forscher und Kurator Carlos Prieto Acevedo. Ergänzt durch ein Musikprogramm beschreibt sie die Geschichte und den aktuellen Zustand der elektronischen Musik und Klangkunst in Mexiko.
Besonderes Augenmerk legt sie auf die Wechselwirkungen zwischen den klanglichen Imaginationen und dem kollektiven Ringen um eine nationale Identität, um alltägliches Überleben, gesellschaftlichen Fortschritt und Stabilität. In Kurt Hentschlägers großformatiger Installation »SOL« in der Halle am Berghain, können Besucher angeblich in ein abgründiges wie prächtiges Nichts eintauchen, in dem jegliches Zeitgefühl aufgehoben ist.
Kurt Hentschläger
Ein Highlight des Festivalprogramm dürften die Konzerte der Underground-Ikone Genesis Breyer P-Orridge (begründete um 1970 mit Throbing Gristle den Industrial) und von Moor Mother sein. Die Musikerin und Afrofuturistin aus Philadelphia tritt zum ersten Mal in Deutschland auf. Ihren musikalischen Aktivismus bezeichnet sie als "project-housing bop", "slaveship punk" oder "witch rap". Dabei fungiert ihre Musik als Vehikel, für die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Kampf und Verlust und der Notwendigkeit von Rebellion und Standhaftigkeit in der afroamerikanischen Community.
Moor Mother
Am Samstag eröffnet Tanya Tagaq Festival.Die kanadische Musikerin mit Inuit-Wurzeln aus Cambridge Bay, Nunavut übersetzt in ihren gleichermaßen politischen wie spirituellen Performances mit Kehlkopfgesang, gutturalen Knarz- und Stöhnlauten alte traditionelle Gesangsformen in eine postmoderne Sprache. Politik geht sie so direkt an wie Klang, ihre Kunst ist ihre Waffe, um für die Rechte der Frauen und indigener Kulturen zu kämpfen. Mit ihrem Auftritt beim CTM Festival stellt sie erstmals in Deutschland ihr neues Albums Retribution (Oktober 2016) vor.