Erstellt am: 28. 1. 2017 - 12:00 Uhr
Die Poesie trotzt dem Schrecklichen
Wenn es ein literarisches Werk gibt, das für den Völkermord an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht, dann ist es Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh". Zwischen 1915 und 1917 wurde die armenische Bevölkerung im osmanischen Reich mit dem Ziel der Ausrottung systematisch verfolgt, vertrieben und ermordet. Obwohl Franz Werfel, ein in Prag geborener deutscher Jude, selbst nie in Armenien war, hat er mit seinem Roman (der vom zähen Widerstand von rund 5000 ArmenierInnen gegen die Übermacht ihrer Verfolger handelt) ein nationales Erinnerungsstück geschaffen und diesen ersten großen Völkermord des 20. Jahrhunderts ins europäische Bewusstsein gebracht. Werfels Roman wurde ein Bestseller.
Wesentlich unbekannter (und 30 Jahre später erschienen), dabei von ebenso großer Menschlichkeit und künstlerischer Kraft getrieben, ist "Le Chevalier à l`Émeraude", den der Armenier Vahram Gakavian im französischen Exil unter dem Pseudonym Victor Gardon geschrieben hat. Das Buch ist 1964 von Gerda von Uslar als "Brunnen der Vergangenheit" ins Deutsche übersetzt worden. Nun wird der Roman neu aufgelegt.
Aus literarischer Sicht ist nicht verständlich, weshalb "Brunnen der Vergangenheit" nicht denselben Status hat wie "Die 40 Tage des Musa Dagh".
Unionsverlag
Vom einem Buben, den das Leben zum Heldentum zwingt
"Wahram, du Teufelsatem, was heckst du aus?" ist der erste Satz, den die Großmutter zum rund 13-jährigen Helden der Geschichte sagt. Ein Held wird er später werden müssen. Zunächst betätigt er sich als Liebesbote für seine Adoptivschwester, streunt durch die duftenden, blühenden Gärten, stöbert im Keller seines Elternhauses Hinweise auf einen Schatz auf.
Tollkopf, Büffelkopf, Ameisenstaub, Narr, Teufelsfeuer, Teufelsschwanz, Dromedardistel, Rebhuhnkopf wird der Armenierjunge Wahram (unter vielen anderen bemerkenswerten Bezeichnungen) genannt werden, bevor er als rasender Bote zwischen den Schützengräben im Aufstand der Armenier von Van gegen die Vernichtungsschwadronen der Jungtürken erste Heldentaten vollbringen wird.
Wahram wächst am Beginn des 20. Jahrhunderts in der damals ostanatolischen Stadt Van auf. Über Haus, Hof und Familie wacht gebieterisch liebend die weise Großmutter. Der Garten, der die Familie ernährt, verfügt über einen Schutzgeist. Es ist eine Natter. Wird ihr Schaden zugefügt, bricht Unheil über die Familie. Das Leben, das Wahram in Van führt, hat eine klare Ordnung. Der Bub kann sich kein Schöneres vorstellen. Doch als sein Vater von einer Reise aus Konstantinopel zurückkehrt, kündigt er das Unheil an. Man werde die Armenier, "vom Säugling bis zum hundertjährigen Greis, niedermetzeln".
Die Zukunft ist zwar grausam – sie handelt von blutiger Verteidigung, von Belagerung, Vertreibung, Flucht, Hunger und Irrwegen, sie handelt von zwei halbwüchsigen und halbverhungerten Buben, die sich, vom Polarstern geleitet und wie durch ein Wunder, einen Weg aus der Hölle bahnen.
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Doch Wahram bleibt eine Vorwitznase, einer, dessen Frechheit regelmäßig in Waghalsigkeit umschlägt und der nicht zuletzt deswegen überlebt. Man spürt von Anfang an, die Geschichte wird genauso schauerlich wie gut ausgehen.
Trotz der historischen Dimension, einem Völkermord, über den man Bescheid weiß, ist das Buch voll Wärme und Herzlichkeit. Mit unvergleichlicher Poesie und zauberhaftem Witz hat Victor Gardon seine eigene Geschichte aufgeschrieben.