Erstellt am: 17. 1. 2017 - 15:45 Uhr
Wo die Leichtigkeit geblieben ist
Manche Ereignisse graben sich so tief ins kollektive Gedächtnis, dass es scheint, als wären sie erst gestern passiert. Der Terroranschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris am 7. Jänner 2015 ist so eines. "Je suis Charlie" war der Slogan, der als Solidaritätsbekundung verstanden wurde oder um Trauer und Beileid zu zeigen, von anderen als Aufruf zur Verteidigung der Pressefreiheit. Auch politisches Kleingeld wurde gemacht, der Slogan scharf kritisiert und abgelehnt. Dazwischen versanken die Überlebenden des Mordes im Kollektiven. "Nach dem Tsunami der Gewalt folgt der Tsunami der Unterstützung", schreibt Catherine Meurisse. Die Zeichnerin hat das "Massaker", die einzige Bezeichnung, die sie für den 12-fachen Mord akzeptiert, zwar überlebt, trotzdem fühlt sie sich innerlich tot.
Dargaud / Rita Scaglia
Catherine Meurisse (geboren 1980) arbeitete von 2001 bis 2016 für "Charlie Hebdo" und wurde 2005 Redaktionsmitglied. Sie zeichnete für "Le Nouvel Observateur" und "Libération"; zudem hat sie auch mehrere Kinderbücher illustriert.
Je suis Charlie
"Wir sind Charlie", aber "wer bin ich?", fragt Meurisse in ihrem Buch. Und: "Wie geht das Nicht-verrückt-Werden?" Ihr Kollege, Karikaturist Philippe Lançon hat ein berührendes Vorwort für diese Graphic Novel geschrieben. Das Massaker in der Redaktion hat er schwer verletzt überlebt. Er schreibt: "Unser gesamtes Leben ist seither wie gefiltert durch das Ereignis. Unsere Träume, unser Empfinden, unsere Erfahrungen bemessen sich an der Mauer, die es auf uns gestürzt hat." Und auch er fragt: "Wo ist die Leichtigkeit geblieben?"
Catherine Meurisse begibt sich auf die Suche danach. Mit einem Brief bittet sie im November 2015 die Künstlerresidenz Villa Medici um Aufnahme. Die Reise nach Rom ist der Wendepunkt aus der Leere und der Erstarrung, die Catherines Leben seit dem Massaker bestimmen. Die Zeichnerin hat vom Stendhal-Syndrom gelesen, einem Schockzustand, der durch zu viel Kunst und Schönheit ausgelöst werden kann. Benannt wurde es nach dem französischen Schriftsteller Stendhal, der diesen Schönheits-Schock bei einer Florenzreise beschrieben hat. Eine Studie aus den späten 70er Jahren, mit mehr als 100 dokumentierten Krankheitsfällen von Touristen hat das Syndrom berühmt gemacht. Catherine Meurisse will nun mit einer Überdosis Schönheit das Trauma des Massakers auslöschen.
Carlsen Verlag
Carlsen Verlag
Tak, tak, tak,...
Sie zeichnet sich die Bilder von der Seele, die sich eingebrannt haben. Das Rattern der Maschinengewehre, das sie hört, als sie sich im Haus neben der Redaktion versteckt. "Tak, tak, tak, tak, tak…", schreibt sie über ein Bild, das sie zusammengekauert mit großen, schwarzen Augen zeigt. Großen, aufgerissene Augen zeichnet auch ihr Kollege Luz (eigentlich: Rénald Luzier) unaufhörlich nach dem Mord. Die beiden hat der Zufall gerettet. Sie hatten verschlafen, Catherine Meurisse aus Liebeskummer, Luz, weil er Geburtstag hatte. Einen Dreikönigs-Kuchen in der Hand hält er sie am Eingang zur Redaktion auf und rettet ihr damit vermutlich das Leben.
Carlsen Verlag
"Die Leichtigkeit" ist im Carlsen Verlag erschien, übersetzt wurde aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Die Bilder, die danach entstehen, sind beklemmend. Meurisse läuft durch leere Räume, bis sie am Ende in die Wand neben dem Schrei von Eduard Munch rennt. Sie beschreibt und zeichnet, wie sie vorübergehend ihr Gedächtnis verliert, nicht mehr zeichnen kann, die Leere, die sie spürt.
Ohne Pathos und Selbstmitleid
Neben der tragischen Geschichte besticht die Graphic Novel aber durch traurig-komische Episoden, bei denen man lachen und weinen zugleich will. Wenn ihr zum Beispiel einer ihrer Personenschützer, unmissverständliche Sexangebote per SMS sendet, die sich danach als Tippfehler herausstellen. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen um ihr Liebesleben wegen der 24-Stunden-Überwachung. Den Schönheitsschock findet Meurisse letztendlich nicht, dafür die Leichtigkeit wieder zu leben und zu zeichnen. Das wird witzig, eindrucksvoll ohne Pathos und Selbstmitleid mit diesem Buch festgeschrieben. Eine ihrer Antworten bei der Suche nach der Schönheit und der Leichtigkeit und wie man dem Terror begegnen muss: mit "Freiheit, Gleichheit und Humor".