Erstellt am: 12. 1. 2017 - 19:01 Uhr
Unendliches Warten
von Chrissi Wilkens und Salinia Stroux
Fotos: Salinia Stroux, Fatima Hassan
“Wir sind so müde. Wir müssen endlich an einem sicheren Ort ankommen“, sagt R. aus Syrien, während sie mit trägen Bewegungen ihr kleines Zimmer im Containerhaus im Lager Lagadikia aufräumt, wo sie seit ein paar Tagen mit ihrer Familie untergebracht ist. Die 32-jährige gelernte Kinderpsychologin ist zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern aus Latakia geflohen. “Bum, bum, bum... So ist es bei uns in Syrien“, sagt sie und malt mit einer Hand die runterstürzenden Bomben in die Luft. In ihren Augen spürt man Ohnmacht und Ausweglosigkeit.
Salinia Stroux
Frost und Schnee ausgeliefert
Für viele der etwa 7.500 Menschen in den Lagern des Großraums Thessaloniki sind es schon mehr als zehn Monate, die sie warten und warten. Kurz vor oder nach der Schließung der Balkanroute vergangenen März kamen sie damals in Idomeni an, dem Grenzort in Nordgriechenland, in dem zwischenzeitlich mehr als 14.000 Flüchtlinge ausharrten. Im Mai räumte die linksgerichtete Regierung von Alexis Tsipras schließlich endgültig das improvisierte Lager. Doch die Flüchtlinge sind nicht weg, nur weil ein Lager verschwindet und sie auf andere verteilt werden. Sie siechen jetzt in der griechischen Kälte dahin.
Über Nacht zog im Mai 2016 das Militär die meisten der neuen Lager hoch. So entstanden dutzende Zeltstädte auf leeren Feldern, abgeschirmt mitten im Nichts. Auch leere Fabrikhallen wurden zu provisorischen Flüchtlingslagern. Monate später ersetzen heute langsam Container die Flüchtlingszelte. Doch die Trostlosigkeit wächst - trotz einiger installierter Heizungen und fließenden Wassers - während in den noch bestehenden Zeltdörfern mittlerweile der letzte Funken Hoffnung in Frost und Schnee erstickt.
Obwohl Millionen Euro für die Ausstattung der Lager an die griechische Regierung, den UN-Flüchtlingsrat und NGOs geflossen sind, scheint die Hilfe nicht immer bei den Flüchtlingen anzukommen - vor allem nicht rechtzeitig. Hilfsorganisationen werfen dem UN-Flüchtlingsrat und der Hilfsabteilung der EU vor, die Gelder nicht richtig verwaltet zu haben. Sogar in Krisensituationen eigentlich geübte internationale Organisationen scheinen nicht in der Lage zu sein, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.
Ironischerweise hatte der UN-Flüchtlingsrat selber Anfang Dezember darauf hingewiesen, dass einige Lager im Hinblick auf den schon lange andauernden Kälteeinbruch noch in einem unzumutbaren Zustand wären und keine grundlegenden Dienstleistungen - wie psychosoziale Beratung, Gesundheitspflege, Übersetzungsdienste oder gar Sicherheit - gesichert seien. Es konnten zwar bislang durch ein Unterbringungsprogramm des UNHCR ca. 21.000 der Flüchtlinge aus den Lagern in Apartments und Hotels evakuiert werden, trotzdem bleiben weiter hunderte besonders gefährdete Menschengruppen wie alleinerziehende Mütter, Kranke, Menschen mit Behinderung, alte Menschen und unbegleitete Minderjährige bis heute ungeschützt und ihrem Schicksal in den Lagern überlassen.
Salinia Stroux
Kritik an schlechten Bedingungen
Die Ärzte ohne Grenzen kritisierten erst kürzlich massiv die schlechten Bedingungen für Flüchtlinge auf den Ägäis-Inseln und warnten den UN-Flüchtlingsrat und die griechische Regierung davor, dass das Missmanagement massive Folgen für die Gesundheit der Flüchtlinge habe.
Für die Versorgung der frierenden Flüchtlinge müssen sich meistens freiwillige Helfer einsetzen. Fotos aus dem Hot Spot in Moria bei Lesbos mit von Schnee bedeckten Zelten sind schockierend. Am Wochenende sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Die letzten Tage hat es fast ununterbrochen geschneit.
Die EU-Kommission, die wie die griechische Regierung verbissen am umstrittenen EU-Türkei-Deal festhält, der wiederum Grundlage der ausweglosen Situation auf den Inseln ist, die grundsätzlich keiner verlassen darf, bezeichnet die Situation jetzt als „unhaltbar“ und schob die Verantwortung für die inhumanen Bedingungen in den Aufnahmezentren, wo noch Flüchtlinge in Zelten leben, der griechischen Regierung zu.
Athen räumte ein, dass die Situation auf den Inseln problematisch ist, machte aber auch die Kommunalverwaltungen für die Missstände verantwortlich. Amnesty International hat derweil zur einer Unterschriftensammlung aufgerufen und fordert von der EU-Kommission, sich dafür einzusetzen, die Flüchtlinge von den griechischen Inseln wegzubringen und sie in andere EU-Länder umzusiedeln.
Als Notlösung für Lesbos hat Athen entschieden, ein Schiff der Kriegsmarine zur Unterbringung von etwa 500 Flüchtlingen in den Hafen der vom Wintersturm heimgesuchten Insel zu platzieren. Der UNHCR hatte zuvor schon einige wenige Hotelzimmer angemietet, um dort etwa 130 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge unterzubringen. Der lokale Hotelverband hat sich dagegen ausgesprochen, Zimmer für Flüchtlinge bereitzustellen.
Fatima Hassan
Die Regierung will im April beginnen, Menschen aus den überfüllten Hot Spots auf das Festland zu transferieren (Europa stellte sich bislang gegen derartige Plänen, um den berüchtigten EU-Türkei-Deal nicht weiter zu schwächen). Ziel sei es auch weitere hunderte Schutzsuchende aus den Lagern am Festland in Wohnungen zu evakuieren. Unter anderem sollen die Flüchtlinge in Griechenland ab März zudem monatlich 400 Euro erhalten, um nicht mehr von Suppenküchen abhängig zu sein und sich selbst versorgen zu können.
Diese und andere finanzielle und personelle Investitionen der EU in Verbesserungsmaßnahmen der bislang inadäquaten bis hin unmenschlichen Infrastrukturen sind als Facelifting der Lebensbedingungen von Flüchtlingen im Land zu lesen. Sie sind die Wegbereiter für den Wiederbeginn der Dublin-Rückführungen ab 15. März 2017 in das Land, welches durch die von der Troika auferlegten Sparmaßnahmen aktuell bei einer Arbeitslosenrate von über 23 Prozent angekommen ist.
Griechenland wird allein gelassen
Parallel wird Athen immer wieder dafür kritisiert, die Situation nicht im Griff zu haben. Doch das Krisenland wird von den anderen EU-Partnern samt Schuldenkrise und Flüchtlingen alleine gelassen. Obwohl die EU-Mitgliedstaaten sich Ende 2015 darauf geeinigt haben, innerhalb von zwei Jahren 66.400 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, sind bis Anfang Januar nur 7.760 tatsächlich umgesiedelt worden. Von den 700 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die ein Recht auf sofortige Umsiedlung haben, erst 200.
Laut offiziellen Angaben leben zurzeit mehr als 62.000 Flüchtlinge in Griechenland. Wenn die EU-Partner Griechenland und den Schutzsuchenden wirklich unter die Arme greifen wollten, könnten sie in der Tat ihre Versprechen zügiger umsetzen. Eine Form der Entlastung und praktizierten Solidarität wäre eine Entbürokratisierung und Beschleunigung von Familienzusammenführungen. Menschenrechtler schätzen, dass über 60% der etwa 7.500 Flüchtlinge in Nordgriechenland das Recht auf Familienzusammenführung haben. Aber nur 2.733 Anträge auf Familienzusammenführung nach Dublin III wurden 2016 bis einschließlich Ende November in Griechenland gestellt, so die Asylbehörde. Von denen wurden bis dato nur 289 letztlich mit ihren Verwandten vereint. Die meisten Anträge richteten sich mit Abstand an Deutschland, gefolgt von Schweden und Österreich.
Die späte Registrierung der Anträge - lange nach der Schließung der Balkanroute - hat auch die Zusammenführung tausender Familien massiv verspätet. Zuerst das hoffnungsvolle Warten auf die Wiederöffnung der Grenze, dann der versperrte Zugang zur Asylbehörde, (weil Skype als einziger Weg blockiert war) und schließlich die Vorregistrierung in den Lagern: Die Asylverfahren der hauptsächlich syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlinge laufen weiter mehr als schleppend. Einige können ihre Anträge erst im März 2017 voll registrieren lassen. Die Bearbeitung von mehr als 25.000 der schon erfassten Anträge steht noch aus.
Über 10 Monate im Zelt
R., die junge Mutter aus Syrien, hat - wie viele andere - mehr als zehn Monate in Zelten verbracht. Vier Monate im Grenzort Idomeni (mit Blick auf den durch Stacheldraht versperrten Weg nach Norden) und sechs Monate im Flüchtlingslager Lagadikia, wo sie immer noch auf ihre Registrierung für die Umsiedlung wartet, die im März stattfinden soll. Erst seit ein paar Tagen wohnt sie nicht mehr im Zelt. Vorher, so beschreibt sie, musste sie täglich gegen Ratten und Schlangen kämpfen.
Auch vor den vielen Männern im Lager fühlte sie sich nicht sicher. “Ich hoffe, dass das neue Jahr besser wird, insbesondere für alle Kinder, und dass sie alles vergessen können, was sie erlebt haben“. Die Zeit, die sie in Idomeni verbracht hat, kann sie nicht aus ihrem Gedächtnis streichen: “Alles war so schlimm dort. Das stundenlange Warten auf das Essen, die überfüllten Zelte, ...“ Die alleinerziehende Mutter zweier kleiner Söhne hofft, in die Niederlande geschickt zu werden, dorthin, wo ihr Bruder lebt. Das Verfahren läuft aber zu langsam.
Salinia Stroux
Im Büro des griechischen Flüchtlingsrats im Zentrum von Thessaloniki warten mehrere Flüchtlingsfamilien. Der schwierige Zugang zum Asylverfahren, der auch jetzt noch fast ausschließlich über Skype möglich ist, ist nach wie vor das Hauptproblem für viele Schutzsuchende, die hier Hilfe finden wollen. Die Sozialarbeiterin Efi Gelastopoulou betont wie wichtig es sei, dass die Familienzusammenführungen schneller funktionieren: “Das Wichtigste ist, die Konsistenz und die Einheit der Familie zu schützen. Solange die Staaten nicht versuchen, die Familien zu vereinen, kann dies schlimme Folgen haben, sowohl für die Erwachsenen als auch für die minderjährigen Familienmitglieder“, so Gelastopoulou.
Ohne Handy kein Kontakt zur Familie
Auf einer verlassenen Landstraße vor einem der berüchtigtsten Zeltlager in der Nähe von Thessaloniki steht ein Mann aus Syrien am Straßenrand. Auf seinem Kopf trägt er eine Stirnleuchte. Er sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen 12-jährigen Sohn in Deutschland anzurufen. Das Kind ist dort allein mit seiner kranken Großmutter. Die Frau des Mannes und die anderen drei Kinder sind noch in Syrien. Nur mit Mühe bewahrt er beim Sprechen die Fassung. Im Lager hat jemand sein Handy gestohlen, mit dem er mit seiner Familie Kontakt hält. “Seit einem Monat habe ich meinen Sohn nicht gesprochen. Aber ich habe eine Nummer im Kopf, über die ich meine Mutter und somit auch ihn erreichen kann“, sagt er.
Seit mehreren Tagen hat der magere Mann nicht geduscht, weil es kein warmes Wasser und keine Heizung im Lager gibt. Er will so schnell wie möglich raus aus Griechenland. Sein Antrag auf Familienzusammenführung wurde vorherige Woche erst registriert. Frühestens in fünf Monaten wird er zu seinem Sohn und seiner Mutter reisen können.
Einmal hat er bereits versucht mit der Hilfe von Schleppern über die Balkanroute Deutschland zu erreichen. Er hat Felder und Berge überquert bis er schließlich an der serbisch-ungarischen Grenze festgenommen und zurück nach Griechenland abgeschoben wurde. “Ich muss nach Deutschland, weil meine Mutter und mein Sohn dort sind. Meine Mutter ist eine alte Frau und mein Sohn erst 12 Jahre alt. Er braucht mich.“ Aufgeben will er aber nicht, so wie viele andere Flüchtlinge, die die Hoffnung auf ihr Asylverfahren verloren haben und jetzt versuchen unter Einsatz ihres Lebens das Land selber zu verlassen (auch wenn sie dann zumeist nur einen Schritt weiter im ebenfalls überforderten Serbien steckenbleiben).
Warten auf Familienzusammenführung
Im Lager Diavata ein paar Kilometer weiter schlüpft eine Gruppe von afghanischen Flüchtlingen durch ein Loch im Zaun. Unter ihnen befindet sich auch ein 12-jähriges Mädchen. Sein Bruder und die Oma befinden sich in Belgien. Mehr als zehn Monate wartete das Mädchen mit seiner Mutter und seinen kleinen Geschwistern auf ihre Registrierung zur Familienzusammenführung, und das unter lebensgefährlichen Bedingungen, da die Stimmung im Lager angespannt ist. Einmal brannte ihr Zelt, während die Kinder darin schliefen. Ein anderes Mal wurde das Mädchen von einem hysterischen Familienvater verprügelt und blieb wochenlang im Krankenhaus. Seit ein paar Tagen erst leben sie in einem Containerhaus. „Vorher im Zelt waren wir absolut ungeschützt. Jemand hat mich angegriffen. In dem Zelt ging es uns sehr schlecht. Meine Mutter konnte in der Nacht vor Sorge nicht schlafen“, sagt sie.
Fatima Hassan
Neben dem Mädchen steht ein älterer Mann aus Afghanistan und hört ihr zu. Die Stadt aus der er kommt, befindet sich in den Händen der Taliban. Auch seine Familie wurde auseinandergerissen. Er hat einen minderjährigen Sohn in Schweden. Was er von der Stimmung gegen afghanische Flüchtlinge in Europa mitbekommt, macht ihm Angst. „Ich kenne persönlich Menschen, die nach Afghanistan abgeschoben wurden. Deren Leben ist in Gefahr. Ich kenne ihre Geschichten. Es gibt hier viele im Lager, die ihre Ehemänner, ihre Söhne auf dem Weg nach Europa verloren haben. Wie sollen sie nach Afghanistan zurückgehen? Wo sollen sie denn hin? Sie haben doch nichts mehr. Wenn Europa wirklich ein Herz für Flüchtlinge hat, darf es sie nicht in diesem Elend zurücklassen.”