Erstellt am: 9. 1. 2017 - 15:43 Uhr
SOHN und Baby
„Baby“ ist das zweite Wort, das am Album zu hören ist. Baby nicht im Sinn von Nachwuchs, sondern von Darling. Es ist das alte Baby des Rock’n’Roll. Ein Wort das gleichermaßen Zuwendung und Abwertung bedeutet. Hier das Baby, weiblich, sweet und auf jeden Fall beschützenswert, aber selten vor den eigenen Gelüsten. Dort der Eroberer und Beschützer, der die Hosen an hat, auch wenn er sie gerade auszieht. Er hat die Kontrolle, selbst wenn sie ihm entgleitet. „Baby, let’s play house“, hieß das etwa beim King.
Christian Lehner
„My baby don’t turn around“, heißt es bei SOHN im Eröffnungsstück seines neuen Albums „Rennen“. Der Song „Hard Liquor“ erzählt in guter alter Blues-Tradition von Laster und Leid. Es geht um eine Frau, die dem Alkohol verfallen ist. Das erzählende Ich ist wiederum der Frau verfallen. Beide struggeln mit ihrer Situation, die sie am Ende zusammenführen wird. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das Wort „Baby“ einmal in meinen Lyrics verwenden werde“, erzählt Chris Taylor, der Produzent und Musiker hinter SOHN, beim FM4-Interview in Berlin und lächelt etwas verlegen. Warum er es dennoch tat, hat mehrere Gründe. Da wäre die besungene Frau. Sie ist mittlerweile trocken, mit Taylor verheiratet und seit Kurzem Mutter eines gesunden Sohns. Thema und Nähe führten Taylor instinktiv zum Blues. Der Song war ursprünglich für einen befreundeten Musiker bestimmt, aber SOHN wollte ihn dann doch nicht abgeben.
„Hard Liquor“ kommt zu einer Zeit, in der Rag’n’Bone Mans Human, ebenfalls ein elektronisch zugerichteter Blues, die deutschsprachigen Charts dominiert wie noch keine englische Produktion zuvor. Wo die letzten Jahre ein fast körperloser Sound die Vermählung von Singer-Songwriter, R’n’B und Elektronik feierte, sorgt die Gravität dieser beiden Entwürfe für eine neuerliche Volte des zeitgenössischen elektronischen Popsongs. Dieser hat sich in der auslaufenden Dekade als Konsens und kleinster gemeinsame Nenner der auseinanderdriftenden Zielgruppen etabliert und durchläuft jetzt, wie es scheint, die klassischen Genrekategorien.
True Blue
„Tremors“ hieß das Debütalbum von SOHN. Es entstand unter dem Eindruck von Isolation und Enttäuschung. In seiner Heimatstadt London kam Taylor mit dem Projekt Trouble over Tokyo nicht so recht vom Fleck. Erst die Übersiedlung nach Wien, wo er sechs Jahre lebte und SOHN gründete, brachte Licht in die Karriere des Endzwanzigers. Seine Stücke, die gut die Balance zwischen Singer-Songwritertum und Produzenten-Herz halten, trugen ihm bald Rmx- und Schreibaufträge von Stars wie Lana del Rey, Laura Mulva und Rihanna zu. „Tremors“ fügte sich in den von James Blake aufgerissenen Kanon selbst ausgemessener Leidenskurven, die nach Innen zeigen und auf einem zerstückelten Grund aus klickenden Drums, kunstvoll zerstückelnden Beats und zart grollenden Basslinien gebettet waren.
Christian Lehner
Und nun folgt „Rennen“. Wie bei vielen Zweitalben verarbeitet auch SOHN die Erfahrungen, die seit dem Debüt gesammelt wurden und die das Leben eines plötzlich im Rampenlicht stehenden Menschen zwangsläufig erschüttern müssen. Neuer Zeitplan, neue Intensitäten, neues Leben. Der Spätzünder nahm sich vor, zu nichts Nein zu sagen. „Ich bin in 2 Jahren 7 Mal um die Welt gereist. Im Rückblick ist das eine einzige Wolke aus Sounds, Gerüchen und Gedanken und natürlich Menschen. In einem Moment war ich gefangen zwischen hunderten Motorrädern in Taipeh, dann saß ich auf dem Gepäcksträger eines Fahrrads in Antwerpen, das einem Unbekannten gehörte und plötzlich landete ich betrunken bei einem Tätowierer.“
4AD
Und in den Armen einer Betrunkenen. Viele Songs auf „Rennen“, das seinen Titel dieser atemlosen Zeit verdankt, lassen sich als Beziehungssongs hören, die im konkreten Fall mit Ehering und Kind ein vorläufiges Happy End gefunden haben. „Signal“ zum Beispiel, das mit einer Rhythmuskonfiguration aus Herzklopfen und Fernschreiber-Tackern beginnt, „handelt von den Signalen, die sich zwei Liebende vom jeweils anderen Ende der Welt zusenden“, so SOHN. In „Conrad“ dräut die Ahnung, dass der gemeinsam eingeschlagene Weg einer ist, den man nicht mehr so leicht verlassen kann. Der Mann hat nun etwas zu erzählen, das nicht nur von ihm handelt. Das macht „Rennen“ nahbarer. Die Stimme drängt nach vorne, die Arrangements wirken entschachtelt und mit Hooks und Melodien besetzt.
Mittlerweile lebt Taylor mit Familie in L.A. Dort hat er sich als Songschreiber und Produzent etabliert. Nur so kann er unter den derzeitigen Bedingungen des Popgeschäfts sein SOHN-Projekt betreiben. Außerdem helfe die Dienstleistung der eigenen Kunst: „Ich habe gelernt, meine Stücke nicht einfach zu produzieren. Ich schlüpfe vielmehr in die Rolle eines außenstehenden Produzenten. Da gibt es einen Grundsatz: Wenn dich Stimme und Melodie nicht sofort packen, kannst du den Song gleich wieder vergessen.“
SOHN live
- Wien | arena | 13.02.
- Graz | ppc | 16.02.
Dass der Sound-Nerd nicht immer dem Pop-Primat weichen muss, zeigen Stücke wie „Harbour“ oder „Primary“, die als zerbrechliche und sparsam instrumentierte Klagelieder beginnen und sich allmählich zu Dance-Tracks hochloopen. SOHN zeigt auf „Rennen“ nicht nur mehr Präsenz, sondern auch einen Variantenreichtum, der das Album über die Masse einschlägiger Sensibilisierungsware in Moll, Nebel und moderner Sound-Ästhetik hebt. Daran ändert auch ein Baby nichts. Im Gegenteil.