Erstellt am: 5. 1. 2017 - 14:28 Uhr
Dein Volk gegen mein Volk
Sind wir noch im Zwangsoptimismus-Modus zum Jahreswechsel, oder darf man am 5. Jänner schon wieder in die Realität zurückkehren? Ich frag nur, weil 2017 hierzulande beginnt, Schatten vorauszuwerfen, die ziemlich verdächtig nach 2016 mit Mascherl drauf aussehen.
Mit dem Bxxx!?!!xx-Ding hier geht es nämlich jetzt erst so richtig los. Und im britischen politischen Alltag jedenfalls ist Optimismuszwang was fürs ganze Jahr.
Sir Ivan Rogers, der oberste britische Diplomat in Brüssel, musste vorgestern mitten in der kritischen Phase vor den britischen Austrittsverhandlungen aus der EU zurücktreten, weil er das nicht einsah.
APA/AFP/THIERRY CHARLIER
Rogers war unter massiven öffentlichen Druck geraten, nachdem er in internen Besprechungen mit der Regierung gemeint hatte, das Ausverhandeln neuer Handelsbeziehungen zur EU werde ungefähr zehn Jahre dauern.
Das scheint auch völlig realistisch angesichts der Komplexität der Aufgabe. Aber was nicht sein soll, das darf auch nicht sein, also wurde Rogers aus dem Amt geekelt und durch den nächsten Sir, nämlich Tim Barrow, Britanniens ehemaligen Botschafter in Russland, ersetzt.
In seinem für einen diskreten Beamten wie ihn erstaunlich expliziten Rücktrittsbrief richtete Sir Ivan folgende Worte an seine verbleibenden Kolleg_innen in der UK-Repräsentanz in Brüssel:
„Für meinen Teil hoffe ich, dass ich in meinem alltäglichen Umgang mit ihnen die Werte vorgeführt habe, für die ich als öffentlich Bediensteter immer eingestanden bin. Ich hoffe, dass Sie weiterhin unbegründete Argumente und verworrene Gedanken herausfordern werden, und dass Sie nie Angst haben werden, denen, die an der Macht sind, die Wahrheit zu sagen.“
Klang so, als hätte der Autor dieser Zeilen in seinem Umgang mit der Brexit-Regierung reichlich Gelegenheit gehabt, rege Kontakte zwischen Kopf und Tischplatte herzustellen.
Er schrieb weiters: „Meine eigene Ansicht bleibt dieselbe wie stets zuvor: Wir wissen noch nicht, was die Regierung als Verhandlungsziele für das Verhältnis des Vereinten Königreichs zur EU nach dem Austritt setzen wird.“
Selbst jener hochrangige Beamte, der Großbritannien bis vorgestern vor der EU zu vertreten hatte, war also ein halbes Jahr nach dem EU-Referendum und knappe drei Monate vor Verhandlungsbeginn noch immer nicht darüber eingeweiht, was seine eigene Regierung eigentlich von ihm will.
Er wusste nur wie wir, dass es rund um Theresa May reichlich Einflüster_innen aus der Tory-Rechten gibt, die gar keine konstruktiven Verhandlungen mit der EU wollen, zumal sie in einer Fantasiewelt leben, in der Großbritannien außerhalb aller Handelsverträge und Regulationen frei wie ein Vogel einem wirtschaftsliberalen Nirvana entgegen flattern wird.
Und dementsprechend hat Theresa Mays Büro angekündigt, die Chefin werde demnächst eine Rede halten, in der sie klarzustellen gedenkt, dass sie die „volle Kontrolle über die Grenzen“ in den kommenden Verhandlungen über alle ökonomischen Kriterien stellen werde.
Einmal abgesehen davon, dass sich die britischen (eigentlich englischen) Medien nach wie vor nicht mit der Frage aufhalten, was so eine „volle Kontrolle über die Grenzen“ für die irisch-nordirische Grenze und das Fortlaufen des dortigen Friedensprozesses bedeuteten würde, scheint diese Formulierung die vielzitierte norwegische Lösungsvariante, mit vollem Zugang zum europäischen Binnenmarkt, auszuschließen.
Aber dazu müsste Großbritannien eine solche überhaupt erst anstreben. Tatsächlich gibt es innerhalb Mays Regierungsfraktion aggressive Kräfte, die die kommenden Verhandlungen stattdessen aktiv sabotieren wollen.
Selbst in einer Übergangslösung zur Linderung des Brexit-Schocks, wie sie Ivan Rogers angestrebt haben soll, sehen sie schon den Versuch des Beamtenstaats, sich wieder in die EU hinein zu verhandeln.
Sie verdächtigen alle im Foreign Office, die auch nur gute Beziehungen zu Kontinentalen pflegen, des Heimatverrats, glauben an eine Wiederkehr des Empire, an den Zusammenhalt der vom alten Empire verbliebenen „Anglosphäre“ (USA, UK, Australien, Neuseeland, Kanada) und würden die ganze Insel am liebsten von der Kontinentalplatte abstoßen, wenn dies denn möglich wäre.
Der Grad, zu dem derlei, von allen Realitäten der Weltwirtschaft losgelöste, und für die Londoner City als internationalen Finanzplatz fatale Fantasmen nicht nur in der konservativen Partei, sondern auch in den britischen Medien heutzutage ernst genommen werden, verspricht eine harte Landung auf dem Boden der Realität.
Aber sowas wie Besinnung ist beim Aufprall noch lange nicht zu erwarten.
Im Gegenteil: Es werden die EU und die fünfte Kolonne der Kompromissbereiten in den eigenen Reihen sein, denen die Brexiteure und Brexiteusen die Schuld für die Bredouille in die Schuhe schieben.
Nun könnte es zwar gut sein, dass die Konservativen sich über dieses Thema noch spalten werden, schließlich haben genug von ihnen ihr Geld in der City geparkt, und genau dort hört sich der Spaß auf.
Aber die Labour-Opposition tut derzeit alles, um davon nicht zu profitieren.
Im Gegensatz zur "Remain" stimmenden Mehrheit ihrer Wähler_innen sucht sie das Rezept für einen „linken“ Populismus, der die Bedrohung durch UKIPs Vorstoß in ihre Kernwählerschichten abwehren soll.
Und hat dieses nun scheinbar in der Wiederentdeckung ihrer eigenen, traditionellen Europhobie gefunden.
Kampagne: „A Message From Our Friends On The Continent“
Vorgestern machte ein von der Transportbedienstetengewerkschaft TSSA und von der Jeremy Corbyn-nahen Pressure Group Momentum rechtzeitig zur jährlichen Erhöhung der Bahnfahrkartenpreise veröffentlichtes kleines Kampagnenvideo die Runde:
„A Message From Our Friends On The Continent“ steht da auf dem Thumbnail, und bei Anklicken setzt der für solche Zwecke obligate, melancholisch euphorische Klavier-Soundtrack ein.
„Das Volk der Niederlande“, sagt dazu ein Mann, der seine Tochter an einem Kanal entlang führt, in eigentümlicher, möglicherweise holländisch gemeinter Aussprache.
„Das Volk von Frankreich“, sagt eine Frau, die neben ihrem angelehnten Fahrrad auf einer Parkbank sitzt, während sie von ihrem Buch aufblickt (gallische Sophistication!), mit nachempfunder französischer Vokalverschiebung.
„Das Volk von Deutschland“, sagt ein junger Mann, während er sich über die Lehne seines Sofas nach hinten Richtung Kamera beugt, sein „deutscher“ Akzent der dubioseste von allen dreien (neben ihm sitzt sein Kumpel, im Hintergrund läuft, logisch, ein Fußballspiel).
Screenshot Robert Rotifer
Ein paar Fakten nebenbei...
Wem die im TSSA-Clip erwähnten Lizenzen gehören:
Thameslink, Gatwick Express, London Midland, Southern, Southeastern: Govia, eine Mischung aus der britischen Firma Go-Ahead, und dem privaten französischen Bahnbetreiber Keolis (der allerdings zu 70 Prozent der SNCF gehört).
Grand Central, Chiltern Railways, Northern Rail, CrossCountry, London Overground: Arriva UK, das wiederum der Deutschen Bahn gehört.
Merseyrail: Gehört zur Hälfte der britischen Outsourcing-Firma Serco, zur anderen Hälfte Abellio, dem internationalen Arm der niederländischen Bahnen.
ScotRail, Greater Anglia: Abellio.
Docklands Light Railway: Halb Keolis (französisch), halb Amey (Teil der spanischen Grupo Ferrovial)
Bahnbetreiberfirmen, die der TSSA-Spot nicht erwähnt, sind First Group, Stagecoach und Virgin Trains (gehört seinerseits zu 49 Prozent Stagecoach).
Erstere beide sind die größten Transportunternehmen im Land. Und in britischer Hand.
Originell und in Bezug auf die Qualität der Recherche vielsagend arbiträr auch die Erwähnung der „3 Millionen“ Profit von Abellio aus dem Netzwerk von Greater Anglia im Jahre 2012.
Das ist für so ein Unternehmen nun wirklich keine nennenswert hohe Zahl, und im Jahr darauf war's übrigens mehr als zwölfmal so viel.
Aber es ist zufällig, wenn auch abgerundet, die erste Zahl in diesem eher schleißig geschriebenen Huffington Post-Blog aus dem Jahre 2015.
„...will dem britischen Volk danken“, setzt die „Französin“ fort.
„weil ihr die Eisenbahn privatisiert habt“, sagt der „Deutsche“.
„Unser verstaatlichtes Bahnnetzwerk kann euer Bahnnetzwerk aufkaufen“, sagt der „Holländer“.
„Französin“: „Also wenn ihr ein Ticket von Thameslink, dem Gatwick Express...“
„Deutscher“: „...Grand Central, Chiltern Railways...“
„Holländer“: „...Merseyrail, ScotRail, Greater Anglia...“
„Französin“: „...London Midland, DLR...“
„Deutscher“: „...Northern Rail, London Overground, Cross Country...“
„Französin“: „...Southern and Southeastern...“
„Deutscher“: „...gehen die Profite darin auf, unsere Bahnen billiger zu machen.“
„Holländer“: „2012 bekamen wir drei Millionen Pfund, bloß von Greater Anglia.“
„Französin“: „Nicht nur das: Die britischen Steuerzahler zahlen unseren Betreiberlizenzen massive Subventionen...“
„Deutscher“: „...ohne die wir nie Profit machen könnten.“
Screenshot Robert Rotifer
„Holländer“: „Also selbst wenn ihr nie die Bahn nehmt, schickt ihr uns immer noch Geld!“
„Französin“: „Aber bevor ihr sagt: 'Ah, wir haben die EU verlassen.'...“
„Deutscher“: „...Das macht keinen Unterschied.“
„Holländer“: „Tatsache ist, dass die Tory-Regierung noch mehr privatisieren will...“
„Französin“: „...was bedeutet, dass wir noch mehr übernehmen können.“
Screenshot Robert Rotifer
„Deutscher“: „Also wollen wir dem britischen Volk sagen:“
„Französin“: „Danke.“
„Holländer“, gemeinsam mit seiner rollschuhfahrenden Tochter, die sich neben ihm einbremst, die Daumen hoch in Richtung Kamera: „Danke!“
„Deutscher“ verfolgt mit seinem Kumpel das Fußballspiel im Fernsehen, beide verfallen in Torjubel, Einblendung GER-ENG 3:0, er dreht sich um und sagt mit dämonischem Blick, die Augen im Schlagschatten: „Thank You.“
Screenshot Robert Rotifer
Zum Schluss noch ein Insert: „Wollt ihr die Bahn-Abzocke beenden und die Kontrolle über britische Bahnen zurücknehmen? Dann teil das und zeigt eure Unterstützung.“
Und im Hintergrund die Stimme des Fußballmoderators: „Es ist schwer sich etwas gar so Erniedrigendes wie diese Niederlage vorzustellen.“
Nun ist es neben den endlos weiter fließenden staatlichen Subventionen tatsächlich eine der großen Absurditäten der britischen Bahnprivatisierung, dass öffentliche Gesellschaften anderer Länder um Lizenzen mitbieten dürfen, britische aber nicht.
Allerdings waren es eben die Briten, die in den 1990ern die Idee der Bahnprivatisierung in Europa aufbrachten. Der Subtext des Clips, europäische Investitionen ins fragmentierte britische Bahnnetz seien eine Art kontinentale Verschwörung gegen „das britische Volk“ ist also gelinde gesagt, ein bisschen eine Chuzpe.
Wesentlich besorgniserregender ist allerdings die Form, und das jetzt einmal ganz unabhängig von den verwendeten nationalen Stereotypen, die sind zwar peinlich, aber für jede_n, der/die hier lebt, nicht gerade überraschend (der von mir bisher geschätzte, als künftiger Labour-Chef gehandelte Clive Lewis meinte dazu, „Satire“ sei eben „hit and miss“).
Es ist vielmehr der revanchistische Unterton, der schockiert, und vor allem die Wortwahl:
Wir schreiben das Jahr 2017, und es ist so weit gekommen, dass in Europa ausgerechnet „Linke“ (wie war das gleich mit „Proletarier aller Länder“?) wieder von Bewohner_innen benachbarter Länder als „Völkern“ sprechen.
„People“, das ist ein unschuldig klingendes Wort. So wie „leadership“ zum Beispiel ja auch.
Aber in der wörtlichen Übersetzung wird aus dieser Argumentation, die weltwirtschaftliche Zusammenhänge als ein Geben und Nehmen zwischen rivalisierenden Volkskörpern betrachtet, eine Art völkischer Logik.
Dass eine derart rückständige Denkweise sich schon jetzt manifestiert, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben, lässt allerdings Schlimmstes befürchten.
Vielleicht sollt ich ja auch so ein Video in gefaketem britischem Akzent und Corbyn-T-Shirt machen, schließlich hab ich Momentum, wie hier berichtet, ja auch gemeinsam mit einigen aus Deutschland angereisten Freund_innen und Bekannten neulich beim Solidaritätskonzert in Brighton Geld gespendet.
Mein Blog dazu endete im Satz: "Das progressive Britannien braucht einen anderen Plan."
Also, Momentum, falls ihr das hier wider Erwarten lest: Der isses nicht.