Erstellt am: 5. 1. 2017 - 12:02 Uhr
2017 und das Kino brennt (Teil 2)
SEBASTIAN: Ich muss jetzt gleich zwei Filme anbringen, bei denen meine Vorfreude nicht größer sein könnte, zuerst "The Killing Of A Sacred Deer". In Europa gibt es wohl aktuell keinen spannenderen, weil eigenwilligeren Filmemacher als Yorgos Lanthimos. Nach seinem apokalyptischen Liebesfilm "The Lobster" schlachtet er 2017 die geweihte (Hirsch-)Kuh der Cinephilie erneut mit dem wunderbaren Colin Farrell vor der Kamera und das auch noch zusammen mit Nicole Kidman und Alicia Silverstone. In dem, so hört man, nochmals etwas schwärzer und bitterer ausgefallenen Stück Seltsamkino, geht es um Akademiker und ein Adoptivkind aus der Hölle.
Im Teil 1 dieser kleinen Filmvorschau geht es unter anderem um "Blade Runner 2049", "The Dark Tower" und "Moonlight".
CHRISTIAN: Lanthimos, Farrell und höllische Kinder, ich bin als Riesenfan von "The Lobster" dabei.
SEBASTIAN: Und dann: Erst neulich haben wir uns noch das Weiß von den Stiefeln geklopft und zusammen über das kalte Glück von Schneewestern parliert. Auch im neuen Kinojahr, so scheint es, ist hier immer noch der frische Luftzug aus dem "Finsterem Tal" sehr deutlich zu spüren und nach den "Hateful Eight" und "The Revenant" dürfen wir noch einmal raus in den eiserstarrten Wald. "Wind River" ist das Regie-Debüt des Drehbuchautors von "Hell or High Water", dem wohl schönsten Neo-Western seit "No Country for Old Men". Jeremy Renner spielt einen FBI-Agenten, der sich mit einem Spurensucher zusammentut, um in den schneebedeckten Bergen eines Indianerreservats einen Killer zu fangen.
CHRISTOPH PRENNER schaut sich immer wieder mal gern Sachen im Kino oder Fernsehen an, über die er sich dann in den schönsten Fällen in Periodika wie SKIP, Wiener oder Prime Time (R.I.P.) buchstäblich freut.
CHRISTIAN: Hach, da klingt alles großartig daran für mich, ich liebte "Hell or High Water", der zumindest in Österreich leider keinen Kinostart erleben durfte.
CHRISTOPH: In diese Oden an die Vorfreude kann ich nur heftigst miteinstimmen, halte besagten Taylor Sheridan, der ja ebenfalls schon das oben kurz erwähnte "Sicario" geschrieben hat – sowie dessen wohl auch heuer einschlagendes Sequel "Soldado" – für eine der momentan bemerkenswertesten neuen Kräfte im Buchbereich. Und kann es folglich kaum erwarten, wie das erst ausschaut, wenn er seine Eingebungen mal selbst umsetzen darf.
SEBASTIAN SELIG lebt im Kino und schreibt darüber online ausschweifende Erlebnisberichte, u.a. auch für so aufregend bunte Magazine wie Hard Sensations, NEGATIV oder Deadline.
![© Sundance Institute Wind River](../../v2static/storyimages/site/fm4/2017011/wind-river_body.jpg)
Sundance Institute
Gute und böse Monstren
"The Snowman"
Seit Tomas Alfredsons rasiermesserscharfem "Tinker Tailor Soldier Spy" ist schon wieder viel zu viel Zeit vergangen. Und ein Kinofilm, in dem Michael Fassbender einen hart trinkenden norwegischen Detective spielt, der an der Seite von Charlotte Gainsbourg, J.K. Simmons und Val Kilmer einen Serienkiller jagt, klingt natürlich in jedem Fall toll. VorfreudeDeluxe. (SE)
CHRISTIAN: Weil wir auch von "Blade Runner 2049" gesprochen haben - ich bin ja froh, dass Ridley Scott da nur im Produzentensessel sitzt. Zu durchwachsen ist für mich sein Gesamtwerk als Regisseur, als dass ich ihm wirklich vertrauen würde. Und vor allem den schrecklich biederen "The Martian" konnte ich immer noch nicht wirklich verdrängen. Dafür schätze ich Scotts vielgehasstes Alien-Prequel "Prometheus" von 2012 sehr. Mir war es ziemlich egal, ob dieser Film mit der Facehugger-Saga wirklich korrespondierte. Inmitten der glitschigen Sci-Fi-Horror-Action steckte aber eine ungemein finstere Parabel versteckt, die Friedrich Nietzsche mit Erich von Däniken kurzgeschlossen hat. Ein Film, der von Göttern handelte, die uns Menschen verachten: das war philosophisch nicht wenig. Jetzt führt Scott die Reise ins Herz der Finsternis fort und nähert sich dem Ursprung, seinem Klassiker "Alien", aus 1979.
CHRISTOPH: Gut, dass sich Ridley Scott dann doch wieder daran erinnert hat, dass es dort draußen noch verstörendere Dinge gibt als einen am Mars Unkraut jätenden Matt Damon. Ganz und gar abscheuliche Dinge, die nicht wenige in "Prometheus" vor ein paar Jahren letztlich schmerzlich vermisst haben. "Alien: Covenant" alias "Xenomorph Rises" quasi, erneut mit Fassbender und Rapace sowie mit Katherine Waterston als Proto-Ripley und, of all things, "Kenny Powers" Danny McBride als Piloten des Titelschiffes. Markerschütterung möglich.
"Free Fire"
Ben Wheatley, der spätestens seit "High-Rise" als einer der retrofuturistischen Erneuerer des Gegenwartskinos gelten darf, präsentiert ein blutiges Kammerspiel à la "Reservoir Dogs". Diesmal treffen Sam Riley, Brie Larson, Cillian Murphy und Armie Hammer nach einem missglückten Überfall in einer Lagerhalle aufeinander. Mit unzähligen Kugelhülsen, 70er-Jahre-Bärten, atemloser Spannung und rabenschwarzer Moral darf gerechnet werden. (CF)
SEBASTIAN: Ich hatte im vergangen Jahr das Glück, nochmals die komplette "Alien"-Saga mit meiner Tochter zusammen mit frischem Blick und großer Begeisterung wiederzusehen. Und muss schon sagen, das darf in meinen Augen gerne alles noch lange so tiefschwarz weiterwuchern, wie es in HR Gigers herrlichen Geburts-Fantasien einst seinen unheilvollen Anfang nahm. Die ersten Bilder zum neuen "Alien" lassen hier zudem auf ein Aufwachen in paradiesisch feindlichster, satter und glitschiger Natur hoffen, die uns mit der Heftigkeit von Raubtieren reißen und auseinandernehmen will. Schön.
Film im Fernsehen
CHRISTOPH: Wo wir grad schon bei kühnen Kreaturen sind würde ich bitte gern auch noch auf "Okja", den neuesten Film des südkoreanischen Spitzentypen Bong Joon-Ho hinweisen. Der hat nach seinem weithin unterrepräsentierten Kraftfilm "Snowpiercer" im Gegensatz zu Landsmännern wie Park Chan-Wook nämlich noch nicht genug vom US-Filmzirkus. Und erzählt in seinem neuesten Werk, unter anderem wiedervereint mit der göttlichen Tilda Swinton, von der durch allerlei unwohlgesonnene Corporate-Kräfte herausgeforderten Freundschaft zwischen dem titelspendenden gigantischen Geschöpf und dessen menschlicher Gefährtin, einem koreanischen Mädchen.
"Under The Silver Lake"
Im Nachhinein muss man feststellen, dass das rauschhaft süße L.A.-Neo-Noir-Gift der wundervollen zweiten Staffel von "True Detective" mehr in den Blutbahnen haften geblieben ist, wie man vielleicht zunächst dachte. Hat zum Ende des Jahres bereits deutlich Tom Fords "Nocturnal Animals" geprägt und scheint sich nun auch in David Robert Mitchells Follow-Up zu "It Follows" Bahn zu brechen. Darin wird man dann Andrew Garfield in den Hollywood Hills ins Taumeln geraten sehen. (SE)
CHRISTIAN: Das klingt toll und weniger grimmig als der hoffnungslose "Snowpiercer"...
CHRISTOPH: Stimmt, wer sich eine Rückkehr des Regisseurs zur Monster-Movie-Madness seines "The Host" unter Einbeziehung eines "E.T."-esken Emotionenkarussells ausmalt, dürfte dieser mutmaßlichen Schönheit schon recht nahekommen. Einen Makel wird man dabei aber dennoch verkraften müssen: Weil vom - im Gegensatz zum Mitbewerber Amazon - immer noch kinostartscheuen Streaming-Riesen Netflix produziert, werden Aufregung und Abenteuer wohl nur in eingedampfter Größe aus der Flimmerkiste strömen.
SEBASTIAN: Wenig hat mich so enttäuscht, wie die leeren Versprechen von Netflix weltweit den Kinomarkt zu revolutionieren. Der Streaming-Anbieter entpuppt sich hier leider mehr und mehr als simpler Fernsehsender, dem letztlich der Wille und wohl auch die Eier für die große Leinwand zu fehlen scheinen. Sehr schade, dass viele Kinofilme, angefangen von Cary Fukunagas "Beasts of No Nation", sowie in diesem Jahr dann wohl noch der mit großem Aufwand produzierte neue Brad Pitt/David Michod-Film "War Machine" oder eben "Okja" somit letztlich dann doch nur Fernsehfilme bleiben, einfach weil Netflix hier mögliche Kinostarts nicht auf die Reihe bekommt. Schade.
![© Netflix Okja](../../v2static/storyimages/site/fm4/2017011/Okja-Netflix_body.jpg)
Netflix
Girls just want to have fun
"You Were Never Really Here"
Schon allein die Tatsache, dass es sechs Jahre nach "We Need To Talk About Kevin" einen neuen Film der großartigen Lynne Ramsay geben wird, wäre ja schon Geschenk genug. Wenn das mit Joaquin Phoenix besetzte Rachedrama nach einer Vorlage von Jonathan Ames ("Bored To Death") dann aber von Eingeweihten obendrein gleich noch als atmosphärischer Verwandter von "Drive" angepriesen wird, kennt die Aufgeregtheit schon jetzt keine Grenzen mehr. (CP)
CHRISTOPH: Die Verfilmung seines "Sandman“ dürfte zwar bis auf weiteres zwar wieder einmal auf Eis gelegt worden sein, dennoch darf Autor Neil Gaiman einem übererquicklichen neuen Jahr entgegenblicken, was die Aufbereitung seiner Werke betrifft. Zuerst steigen recht bald seine "American Gods" in Serienform zu uns herab, danach wird auch noch eine humorvoll hochtourige Kurzgeschichte auf der großen Leinwand landen. "How To Talk To Girls At Parties", eine Sci-Fi-RomCom im Spannungsfeld des Zusammenfindens von Girls & Boys, Punks und Aliens.
CHRISTIAN: Der ist mir gar noch nicht untergekommen, erzähl mehr ...
CHRISTOPH: Bitteschön! In den Hauptrollen wird das 2017 vermutlich sehr prägende Darstellerinnenduo Elle Fanning und Nicole Kidman – siehe ja auch Sofia Coppolas "The Beguiled"– zu sehen sein. Regie führt der zwischen "Shortbus" und "Rabbit Hole" notorisch wenig ausrechenbare Arthouse-Auteur John Cameron Mitchell. Und dazu kommt der wahrscheinlich indiehochkarätigste Soundtrack jenseits des zweiten "Trainspotting"-Teils. Sehr gut möglich, dass dies eines jener jetzt noch gut gehüteten Geheimnisse darstellt, über das am Ende dieser Spielzeit dann schon sehr ausgiebig geschwärmt worden sein wird.
![© Hanway Films How-to-Talk-to-Girls-at-Parties](../../v2static/storyimages/site/fm4/2017011/How-to-Talk-to-Girls-at-Parties-movie-Fi_body.jpg)
Hanway Films
"Wilde Maus"
Irgendwann landet man dann wohl letztendlich immer am Prater, wo die Zukunft würfelförmig glitzert wie die Scherben einer eingeschlagenen Autoscheibe. Von und mit Josef Hader. An der Achterbahn. Der "Wilden Maus". Im herrlich tristen Glück. Super. (SE)
SEBASTIAN: Ich muss da, was den Titel und die Inhaltsbeschreibung angeht, unweigerlich an das quietschbunte Alien-Musical "Earth Girls Are Easy" (dt. Titel: "Mein Liebhaber vom anderen Stern") von Julien Temple mit Geena Davis, Jeff Goldblum und Jim Carrey von 1988 denken. Sollte ich längst mal wiedersehen.
CHRISTIAN: Apropos Elle Fanning, die wird ja auch in der neuen Regiearbeit von Ben Affleck zu sehen sein, nach einem Roman von Dennis Lehane. "Live By Night" spielt in der Prohibitionsära der 30er Jahre und zitiert wohl klassische Hollywood-Gangsterfilme, der Trailer sieht nicht uncool aus. Extrem viel verspreche ich mir aber von einer Familiensaga, in der Fanning an der Seite von Anette Benning und Greta Gerwig auftritt. Mike Mills, einer der wunderbarsten Videoregisseure der Nineties, dem wir auch das herzerwärmende Indiedrama "Beginners" verdanken, steckt hinter "20th Century Women". Es ist die Geschichte dreier Frauen, die durch das Kalifornien der späten 70er driften, es geht um Freiheitsversprechungen und politisches Aufbegehren, untermalt von Westcoast-Pop, verpackt in sonnengetränkte Bilder.
SEBASTIAN: Da darf dieses freudig vielversprechende Kinojahr 2017 ruhig drin münden. In aller Freiheit. Lichtdurchflutet.
CHRISTIAN: War wieder ein sehr schönes Gespräch mit euch!