Erstellt am: 4. 1. 2017 - 13:16 Uhr
Das kleine Berlin
Ich sitze in einem Lokal in Sofia, irgendwann zwischen Weihnachten und Silvester. Am Tisch nebenan sind ein Junge und ein Mädchen, die auf Englisch miteinander reden, was für beide eine Fremdsprache zu sein scheint. Ich spreche das Mädchen an, sie ist aus Griechenland und sagt: “Wir kamen, um Silvester im kleinen Berlin zu feiern.“ „Wo?“, frage ich. „Hier in Sofia, eure Stadt ist bekannt bei uns als das kleine Berlin.“
Chris Brown / flickr
Zuerst konnte ich meinen Ohren nicht trauen. Dann sah ich mich um. Meine Geburtsstadt hat sich verändert. Auf den Straßen hört man alle möglichen Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Arabisch und Chinesisch. Sofia hat sich in ein IT-Zentrum verwandelt. Viele große Computerfirmen haben Büros in Sofia aufgemacht. Das Start-up-Geschäft in Bulgariens Hauptstadt boomt. Im Vergleich zu Westeuropa sind in Sofia die Mieten und die Steuern niedrig, das Essen ist gut und das Nachtleben vielfältig.
All das passierte in den letzten 10 Jahren. Ich erinnere mich, wie mich zwei Mädchen aus meinem Wiener Studentenheim in Sofia besucht haben. Luisa aus Genua und Betti aus Grenoble schienen die einzigen Touristinnen im kalten Februar zu sein. Es hatte -15 Grad. Die Spucke ist in der Luft erfroren, bevor sie den Boden erreichen konnte. Nirgendwo fanden wir ein offenes Lokal. Nur eine „italienische“ Pizzeria. Die Italienerin sagte, dass sie nirgendwo eine schlechtere Pizza gegessen habe als dort. Der einzige Ort, wo ich sie hinbringen konnte, war das Dachgeschosszimmer meines Freundes Angel. Ich tat das ungern, denn Angel war ein bekannter Sofioter Frauenheld.
Angel stellte kinetische Skulpturen aus Müll her und war der Sänger einer Punkband namens „Verstopfung“. Immer wenn er Gäste hatte, spielte er Lieder aus seinem Repertoire. Seine Texte waren melancholische Balladen mit einem leichten fäkalen Touch. Angel selbst sah melancholisch aus – etwas zwischen Sinatra und Cobain. Das gefiel den Mädchen. Ich wollte meine ausländischen Gäste nicht in seinem Bann lassen, aber ich hatte keine andere Wahl – draußen war es sehr kalt. Es beruhigte mich nur, dass Angel keine Fremdsprache konnte. Wir blieben im Dachgeschosszimmer für zwei Stunden. Als ich gehen wollte, blieb die Italienerin dort.
Heute arbeitet Angel in einer Computerfirma. Er lebt in einer Drei-Zimmer-Wohnung und hat zwei Kinder. Die Mutter seiner Kinder ist Luisa aus Genua. Ich ging sie besuchen, Luisa hatte Eiscreme gemacht. Dann gingen wir mittagessen. Ich dachte, sie bringen mich in eines der Tausenden Lokale in Sofia, die Italiener gehören, Luisa weiß sicher, wo es heute gute Pizza gibt.
Wir gingen zum alten jüdischen Viertel zwischen Frauenmarkt und Synagoge. Hier schauen die Straßen aus wie im Berliner Kreuzberg. Heute leben hier vor allem Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Wir setzten uns in ein irakisches Restaurant. Luisa und Angel sind mit dem Eigentümer befreundet und gehen oft da essen. Ich fragte ihn, seit wann er in Sofia lebt. „Seit zehn Jahren“, sagte er. „Ich liebe Sofia, hier fühle ich mich wie zu Hause!“, fuhr er fort. „Ich auch!“, sagte Luisa. Angel und ich konnten nur zustimmen, dass wir uns auch wie zu Hause fühlen.