Erstellt am: 29. 12. 2016 - 15:38 Uhr
Rewind 2016: Ankommen mit Amy
Am Anfang steht hier ein beinhartes Geständnis. Den erfolgreichsten Film des Jahres hat der Schreiber dieser Zeilen schlicht ignoriert. Irgendwie ist "Finding Dory", das animierte Abenteuer einer putzigen Fischdame, einfach an mir vorbeigeschwommen. Verdammt viele Menschen weltweit konnten sich anscheinend aber, im Jahr des Terrors, des politischen Rechtsrucks und der Spaltung der westlichen Gesellschaft, auf die brave Pixar-Komödie für die ganze Familie einigen.
Rewind 2016
Der FM4 Jahresrückblick
Unschuldigen Eskapismus repräsentiert auch ein Filmphänomen, das den Multiplex-Besucher mit der gigantischen Popcorn-Tüte und der geringen Aufmerksamkeitsspanne bekanntlich ebenso in den Kinosessel treibt wie neunmalkluge Geeks. Dabei wagt sich die "Star Wars"-Saga mit dem Spin-Off "Rogue One" durchaus in rauere Zonen vor, sowohl was die düstere Ausstattung als auch die tragische Story betrifft. Als Parabel zu bestimmten bedrohlichen Ereignissen in der realen Welt lässt sich die Rebellengeschichte aus dem Weltraum aber nicht lesen, zu schwarzweiß und märchenhaft geht es dazu weiterhin im George-Lucas-Universum zu.
Lucasfilm
Männer und Frauen in Strumpfhosen
Schon um ein Haucherl näher an jenen Verschwörungsszenarien angesiedelt, die täglich durch die (a)sozialen Netzwerke geistern, ist "Captain America: Civil War", ein weiterer Box-Office-Abräumer 2016. Im Kampf der diversen Marvel-Heroen gegeneinander kollidieren in diesem Blockbuster auch Wertevorstellungen und Demokratiebegriffe, die fiesen Fädenzieher im Hintergrund lassen an rechtskonservative Interessensgruppen denken. Der nachtschwarze Pessimismus und das irrlichternde Pathos des DC-Konkurrenz-Epos "Batman vs Superman: Dawn of Justice" begeisterten mich persönlich trotzdem entschieden mehr.
Schön: Der Western feierte 2016 wieder mal ein kleines Comeback. Zunächst archaisch und entschleunigt ("The Revenant"), dann ganz postmodern und Zitate-gespickt ("The Hateful Eight"), schließlich klassizistisch und politisch korrekt ("The Magnificent Seven"), aber immer sehenswert. Ride on.
Abgesehen von diesen beiden Ausnahmeproduktionen, die beide auch das Fragwürdige am (Super-)Heldentum thematisieren, begannen all die Männer und Frauen in ihren bunten Strumpfhosen, die nicht aufzuhören, die Leinwand zu bevölkern, in diesem Jahr wirklich ernsthaft zu nerven.
Die Einführung von "Dr. Strange" ins Marvel-Universum konnte man trotz esoterischem Overkill noch irgendwie durchgehen lassen. Mit „X-Men: Apocalypse“ (ver)endete die einst vielversprechende Mutanten-Serie mit ihren großartigen Akteuren aber in einer stumpfen CGI-Materialschlacht. „Deadpool“ wiederum, einer der Überraschungshits des Jahres, propagierte für mich unter seiner ach-so-cleveren Fassade bloß herzlosen Zynismus und besserwisserische Selbstreferenzialität. Und dann war da der hysterisch gehypte erste Auftritt der „Suicide Squad“, der hoffentlich auch der letzte bleibt. Ein Film als überlanger Trailer, krampfhaft poppig auffrisiert und doch unendlich bieder, ohne den versprochenen rabenschwarzen Nihilismus einzulösen.
Warner
Kino des fantastischen Realismus
Super: Mit "The Light Between Oceans" brachte Derek Cianfrance das klassische Melodram zurück und alle, die noch nicht von Zynismus und Ironie zerfressen sind, zum Heulen. Für ein paar Lachtränen gut war der vielleicht sehenswerteste Beitrag zum heuer ganz schwierigen Komödiengenre. "The Nice Guys" folgt Ryan Gosling und Russell Crowe durch das LA der 80er und erinnert an allerbeste Buddymovies der Ära.
Wenden wir uns lieber wichtigeren Dingen zu, anstatt hier noch mehr über das heuer wenig mitreißende Spektakelkino zu resümieren, das zwischen lustlos inszenierten Sequels ("Jason Bourne"), dahinplätschernden Soft-Reboots ("Ghostbusters") und im besten Fall auf höherem Niveau stagnierenden Franchise-Fortführungen ("Star Trek Beyond") oszillierte. Am komplett anderen Ende des filmischen Spektrums, da wo es um Menschen von nebenan und aus Fleisch und Blut geht, warteten Superhelden des Alltags.
Eine Handvoll toller Filme feierte das Leben in seinen gloriosen Höhen und klaffenden Tiefen auf eine Weise, die ich jetzt mal ganz vage "Fantastischer Realismus" nennen würde. Die beiden deutschen Filmemacherinnen Nicolette Krebitz (mit dem Frau-meets-Wolf-Drama "Wild") und Maren Ade (mit der Frau-meets-verhuschten Papa-Tragikomödie "Toni Erdmann") etwa begeisterten mit Werken, in denen das Bodenständige und das Bizarre, die mit der Handkamera eingefangene Wirklichkeit und traumwandlerische Elemente nahtlos ineinander übergingen.
Filmladen
Auch David O. Russells wunderbares Biopic "Joy" ignorierte die Zwänge von Logik und Realität und ließ Jennifer Lawrence in filmischer Schräglage um Anerkennung kämpfen. Und irgendwie passt der seltsame sommerliche Schwebezustand, in dem sich eine Gruppe junger türkischer Schwestern im erschütternden Coming-Of-Age-Drama "Mustang" befinden, auch zu diesen eigenwilligen Filmen über widerständische Frauen.
Gänzlich abgehoben und trotzdem die Bodenhaftung nicht verlierend präsentierte sich "Swiss Army Man", das wahnwitzige Regiedebüt der Videoclipfilmer The Daniels. Hinter dem surrealen Szenario, zu dem ein furzender und an Sprechdurchfall leidender Leichnam gehört, gespielt von Harry Potter himself, verbirgt sich eine berührende Geschichte rund um Außenseitertum, unerfüllte Liebe, Smartphone-Obsessionen und sexuelle Frustration.
Thim Film
Verstörende Wälder und klaustrophobische Räume
Auf eine Mischung aus Fantastik und Realismus setzten auch die besten Horrorfilme des Jahres. Dabei denke ich keineswegs an das "Blair Witch"-Sequel mit seinen längst ermüdenden Found-Footage-Strategien. Wenn es einen Grund gab, Waldspaziergänge erst einmal auszulassen, dann den Indiestreifen "The Witch: A New-England Folktale". Hochgradig gruselig, morbid und zugleich subtil entwickelte dieser mit wenig Geld produzierte Historienfilm eine verstörende Atmosphäre.
Süß: Das Musical kehrte ebenfalls zurück und befreite sich von seinen biederen Fesseln. Die 80er-Hommage "Sing Street" brachte die verfemte Dekade herzbrecherisch auf den Punkt. Mit "Hail, Caesar!" verbeugten sich die Coen-Brüder auch vor dem klassischen Tanzfilm des alten Hollywood. Demnächst wird dann "LaLaLand" zum Pflicht-Neomusical für retrofuturistische Paare mit nostalgischen Plattensammlungen.
Zutiefst beklemmend wirkten auch zwei Studien in Klaustrophobie, die mit Genrekino-Thrills und genauer Menschenbeobachtung gleichermaßen aufrüttelten. In "Green Room" gerät eine Gruppe junger Punkrocker in die Fänge einer Skinhead-Clique, Regisseur Jeremy Saulnier entfacht ein blutiges Inferno auf engem Raum, in dem jeder Charakter glaubwürdig scheint. Der minimalistische Science-Fiction-Schocker "10 Cloverfield Lane" sperrt eine gekidnappte Protagonistin mit einem Redneck in einen Atombunker und erzählt vor seinem plakativen Twist mehr über erstickende Isolation, weibliches Durchhaltevermögen und kaputte Männerfantasien als das gefeierte, aber doch eine Spur zu verkitschte Oscar-Drama "Room".
Auf eine ganz neue Art von Horror zielte Nicolas Winding Refn mit seinem abstrakten Fashion-Schocker "The Neon Demon". Aber auch wenn der dänische Regieprovokateur mir im Interview erklärte, dass er aus der Zukunft kommt, ist der grellbunte Film auf prachtvolle Weise in der Vergangenheit verankert, überdeutlich beeinflusst von der italienischen Giallo-Ästhetik eines Dario Argento oder Mario Bava.
Thimfilm
Science-Fiction für Herz und Hirn
Das Revolutionäre an "The Neon Demon" ist allerdings die dazugehörige Kriegserklärung an durchformatierte, austauschbare Skripts, wie sie in Drehbuchschulen in aller Welt gepredigt werden. Wie schon im Vorjahr an dieser Stelle verkündet, hat für einige progressive Filmemacher das detaillierte Erzählen längst seinen Platz im Serienfernsehen. Der Kino-Mehrwert, der Grund sich vor eine große Leinwand, in einen dunklen Saal zu setzen, dieser Mehrwert sind umwerfende Bilder und umwerfende Töne. Nicolas Winding Refn will mit seinem knalligen Farbenrausch ins Unterbewusstsein eindringen, der Plot oder gar eine Message sind ihm nebensächlich.
Schade: Andrea Arnolds flirrendes Roadmovie "American Honey" erreichte ebenso wenig die österreichischen Leinwände wie der schleichende belgische Thrilller "Maryland" oder der glühende US-Neo-Western "Hell Or Highwater". Die vage Begründung heimischer Kinobetriebe: Filme, die zwischen allen Stühlen sitzen, die also weder typisches Spektakelkino bieten noch puristisches Kunstkino, sprechen keine definierte Zielgruppe an. Dabei, mit Verlaub, sind das die besten Filme.
Der Brite Ben Wheatley wiederum hat in seinem dystopischen Thriller "High-Rise", nach dem Roman des Visionärs J.G. Ballard, ganz viele und durchaus ambivalente Botschaften verpackt. Aber auch er bricht mit Drehbuchregeln und bombardiert Augen und Ohren an erster Stelle. Kino ist für Künstler wie Wheatley oder Refn ein Fest für die Sinne, ganz nahe an einem Rockkonzert oder Rave.
Auf visueller Ebene konnten auch einige Filme punkten, die ganz grob ins Genre "Science Fiction" fallen und trotzdem in einer ganz eigenen Liga spielen. Die beängstigende Antiutopie "The Lobster" vom griechischen Regierebell Giorgos Lanthimos, der 80er-Retro-Streifen "Midnight Special" von Jeff Nichols und Denis Villeneuves Außerirdischen-Epos "Arrival": Diese Filme könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber sie zeigten, dass Sci-Fi nicht immer mit Weltraumschlachten und Actionsperrfeuer zu tun haben muss. Sci-Fi kann Herz und Hirn stimulieren. Sci-Fi kann in die Zukunft der Menschen blicken und dabei doch die Gegenwart auf den Punkt bringen.
Sony
Apropos "Arrival": Der (wohl nicht nur für mich) Film des Jahres steht und fällt mit seiner Hauptdarstellerin. Die suberbe Amy Adams fasziniert aber nicht nur als empathische Linguistin Louise, die aufgeregt mit Aliens kommuniziert. In Tom Fords düsterem Beziehungstthriller "Nocturnal Animals", der erst jetzt bei uns angelaufen ist, spielt die überaus wandlungsfähige Amerikanerin den Gegenpart, eine emotional versteinerte Galeristin, so überzeugend, dass sie sich schon für einen Film von Michael Haneke empfiehlt.
Überhaupt sind es Schauspielerinnen, die von diesem Filmjahr am eindringlichsten in Erinnerung bleiben. Felicity Jones, Gal Gadot, Blake Lively, Brie Larson, Isabelle Hubert, Margot Robbie, Tilda Swinton, Kristen Wiig, Günes Sensoy, Mary Elizabeth Winstead, Anya Taylor-Joy, Elle Fanning, Lilith Stangenberg, Sandra Hüller, Rachel Weisz oder Alicia Vikander, sie alle waren alleine den Kinobesuch wert. Und dann eben Amy Adams, ein echter Star mit Independent-Credibility, uneitel und glamourös zugleich, spezialisiert auf intellektuelle Figuren jenseits der 30, das klingt schon wie ein Hollywood-Wunder.