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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

31. 12. 2016 - 14:02

Neujahrsgeschichte

Das ist meine Neujahrsgeschichte. Man soll sie mit der Weihnachtsgeschichte nicht verwechseln. Obwohl die Neujahrsgeschichte zu Weihnachten begann.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.

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Sogar kurz vor Weihnachten. Damals rief mich mein Freund Milan an. Milan hat Architektur in Deutschland studiert. Danach spezialisierte er sich in Spanien und in Japan. Seit einigen Jahren aber wohnt Milan in einem bulgarischen Bergdorf. Das Haus hat sein Opa mit seinen eigenen zwei Händen gebaut. Sein Sohn, Milans Vater, ist ein Architekt geworden. Milans Schicksal war das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Doch etwas ging schief, Milan pfiff auf die Architektur und zog im Bergdorf ein.

Still aus japanischem Film, Mann trägt Wasserkrüge

The Naked Island

"The Naked Island", Japan 1960

Genau dieser Milan rief mich kurz vor Weihnachten an mit der Bitte, einen Beamer für ihn aus Wien zu besorgen. Ich sollte mir die genauen technischen Daten des gewollten Beamers aufschreiben. Milan ist, wie ich schon erwähnt habe, ein Architekt und die Genauigkeit liegt in seiner Natur. Er meinte, dass genau dieser Beamer in Wien günstiger sei als in Bulgarien. Ich hatte keine Zeit ihn zu fragen, warum er gerade diesen Beamer brauchte.

Als ich in Milans Dorf war, hatte er schon alles vorbereitet: Der Holzofen war an, er hatte die ehemalige Scheune des Hauses geheizt und sie zur einem Kinosaal umgebaut. Er hatte auch eine Leinwand aufgespannt. Danach kamen alle Dorfbewohner. Jeder hatte etwas mit – einer ein Grillhuhn, ein zweiter Sauerkraut, ein dritter hausgemachten Wein. Der Tisch wurde immer bedeckter. Währenddessen bereitete Milan den Beamer vor. Alle saßen vor der Leinwand. Milan hielt eine Rede: “Seid froh, dass ihr in Bulgarien zur Welt gekommen seid, denn hier haben Flüsse Wasser und unser Land ist fett wie Käse. Wir fluchen alle auf unser Schicksal und eigentlich leben wir im Paradies. Schaut, wie die Anderen leben und freut euch, dass ihr am Leben seid!“

Am Bildschirm lief der Film „The Naked Island“. Ein japanischer Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahre 1960. Im Film wird kaum gesprochen. Er zeigt einen Mann und eine Frau, die Eimer mit Wasser bringen, um ihre wasserlose Insel zu gießen, um zu überleben. Die Dorfbewohner wurden leise. Sie vergaßen zu essen. Man sah ihnen an, wie sie ihre Tränen verschlucken.

Als der Film zu Ende war, sagte niemand was. Milan sprach zuerst. „Das ist Todor, er brachte uns den Beamer!“, stellte er mich vor. Die Menschen standen auf und schüttelten meine Hand einer nach dem anderen. Sie dachten wahrscheinlich, dass ich der Macher des Films bin, den sie gerade geschaut haben. Ihre Gesichter leuchteten. Denn Milan hatte ihre Seelen gegossen.