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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

27. 12. 2016 - 16:45

Rewind 2016 - Mein Magen hat recht

Das Brexit-Jahr von innen, es war zum Kotzen. Und reden wir einmal nicht von Fake News, der Sun und der Daily Mail: Die öffentlich-rechtlichen Medien taten ihren Teil dazu.

Rewind 2016

Der FM4 Jahresrückblick

Ganz schön metaphorisch, dachte ich mir gestern, auf dem Badezimmerboden knieend, während mein Magen die Aufgabe, das Weihnachtsessen zu verdauen, frei zu einem bitteren Statement über den Verlauf des vergangenen Jahres uminterpretierte.

Auch Eingeweide dürfen streiken, und gleichermaßen empfehle ich mich hier aus dem zwanzigsten Jahr in meiner Wahlheimat mit dem Aufruf zum Migrant_innenstreik am 20. Februar.

Das Prinzip ist einfach: Den Briten zu zeigen, was passieren würde, wenn wir Ausländer_innen, allesamt Geiseln des Projekts Brexit, nicht mehr da wären.

Brexit-Blogs 2016

„Die Referenzen auf den Zweiten Weltkrieg auf den Titelseiten der letzten zwei Tage lassen jedenfalls erahnen, was bis Juni auf uns zukommt”, schrieb ich am 4. Februar 2016 unter der Überschrift Hat Glühbirne zu hoch gegamblet? (Glühbirne, weil David Camerons prall runde Stirn vor lauter Erregung immer so puterrot glühte):

„Ein Verbleib in der EU wird also mit Appeasement gegenüber Hitler gleichgesetzt, das muss man sich einmal so richtig auf der Zunge zergehen lassen.
Wenn diese Botschaft beim Publikum ankommt, hat Glühbirne wirklich verloren, und ich bin ab Juni ein Alien hier.”

Bis März hatte sich schon eine gewisse Verzweiflung über die Debatte in meine Blogs eingeschlichen, siehe diesen hier mit Titel Sollen sie doch?:

„Jeden Tag mag ich mich am liebsten mit diesen Leuten hinsetzen und ihnen ganz geduldig und sanft das Prinzip einer Freihandelszone erklären, zumal es nicht ganz durchgedrungen sein mag.
Ein einzelner EU-Staat wie Deutschland exportiert sieben Prozent seiner Produkte nach Großbritannien und könnte Export-Tarife in diesem Segment natürlich wesentlich leichter wegstecken als die Briten, die – Handelsbilanzdefizit hin oder her – rund die Hälfte ihrer Exporte in die gesamte EU schicken.
Überhaupt keine Frage, wer da bei den Neuverhandlungen am längeren Ast säße, und eigentlich unvorstellbar, dass die Brexiters so ökonomisch analphabetisch sind, das nicht zu verstehen.“

Gegen Ende März waren Allison Pearson vom Daily Telegraph, Katie Hopkins von der Daily Mail dann schon soweit, den Terroranschlag von Brüssel für die Sache des Brexit zu instrumentalisieren, mit Schützenhilfe des Ex-Geheimdienstchefs Richard Dearlove, der bereits von einer Gelegenheit zum Austritt aus der Menschenrechtskonvention träumte.

Dass dann im Mai sogar schon Larry Elliott, der Wirtschaftschef des Guardian, einer der wenigen europafreundlicheren Tageszeitungen, sich zur Brexit-Seite bekannte und die EU als nicht die USA ohne den elektrischen Stuhl, sondern die UdSSR ohne Gulag bezeichnete, fiel vielleicht gar nicht so sehr ins Gewicht.

Eine Woche vor der Abstimmung der Schock des Mordes an der Unterhaus-Abgeordneten Jo Cox auf offener Straße. „Britain first, this is for Britain“, soll der Mörder während seiner Tat gerufen haben..

Dann der 23. Juni:
„Wenn dagegen passiert, was ich in meinem großen Zeh spüre, und Britannien tatsächlich Richtung Brexit stürmt, dann rasselt erst einmal das Pfund runter“, schrieb ich am Tag der Abstimmung, „Boris Johnson hat ja bereits versprochen, dass er sich entschuldigen wird, falls Britannien nach einem Brexit wieder in die Rezession schlittert. Wer diese Entschuldigung artig entgegen nimmt, kann sich darum dann ein Eis kaufen.“

Am 24.6. hatte bereits der Brexit Blues eingesetzt.

Und noch ein paar Post-Referendum Blogs:

8.9., zwei Wochen, nachdem der Pole Arek Jozwik in Harlow erschlagen wurde

13.10.
Der Sieg des Kleingeists. Theresa Mays Attacke auf die Weltenbürger_innen als Bürger_innen des Nirdgenwo

20.10.
Ins Maul geschaut, The Sun empfiehlt Zahnproben für Flüchtlinge.
Und passend zur Story nebenan: Katya Adler interviewt für die BBC in Berlin einen Identitären.

Sollen sie doch selber sehen, wo sie hinkommen, die Briten, ohne meine Arbeit für Medien im deutschen Sprachraum.

Okay, die Strategie braucht noch ein bisschen Arbeit. Einstweilen verlass ich mich auf rumänische Krankenschwestern und polnische Installateure.

Jedenfalls bleibt mir beim Zurückspulen nicht erspart, wieder einmal das B-Wort auszupacken. Nun hab ich ja gerade das informative Buch Brexit – What the Hell Happens Now? von Ian Dunt, dem britischen Journalisten mit dem derzeit schärfsten Durchblick, gelesen. Das beruhigt nicht unbedingt.

Buch: Brexit - What the Hell Happens Now, von Ian Dunt

Robert Rotifer

Das Überzeugendste, was ich bisher zum Thema gelesen habe

Um es zusammenzufassen: Die Möglichkeiten, die Großbritannien für die unmittelbare Zukunft offen stehen, sind mildere bis gröbste Varianten einer mittleren bis völligen Katastrophe, die britische Legislatur und Bürokratie wird sich an mehreren Fronten in einen uferlosen Papierkrieg verstricken, und die britische Wirtschaft wird gehörig schrumpfen, selbst falls Großbritannien es schaffen sollte (oder wollte), Teil des europäischen Wirtschaftsraums oder der europäischen Zollunion zu bleiben, statt über die berüchtigte Klippe eines harten Brexit zu springen.

Aber das hier soll ja kein Voraus-, sondern ein Rückblick sein, also widme ich mich lieber noch einmal der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Zur Rechten finden sich Links zu meinen gesammelten Blogs zum Thema Brexit.
Als roter Faden zieht sich dadurch mein wachsendes Entsetzen über die britische Tagespresse und den giftigen Unsinn, den sie unablässig in die Welt setzte.

Alles alter Hut, in der Zwischenzeit ist es ja moderner geworden, die Schuld für die Blödheit der Welt bei den Pseudonews auf Fakebook zu suchen. Und es stimmt schon, vor dem EU-Referendum wurde ich ebenda selbst mit Links zu Britain First oder Brexit-The Movie bombardiert.

Aber, und das schmerzt mich als Freund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sagen, eigentlich ist ja die BBC an allem schuld.

Im Ernst, gehen wir es einmal durch:

Boris Johnson zum Beispiel war bloß ein etwas exzentrischer, unfrisierter Unterhausabgeordneter, als die Produzenten der BBC-Satiresendung „Have I Got News For You?“ ihn 2002 als Gastmoderator engagierten.

Sein Talent zur Selbstironie als fehlerhafter Vorleser geskripteter Witze machte den Ex-Journalisten zu einer populären Figur. Sechs Jahre später wählten die Londoner_innen diesen witzigen Typen, den sie im Fernsehen so entwaffnend über sich selbst lachen gesehen hatten, nicht zuletzt deshalb zum Bürgermeister.

Und Johnson verwendete auch dieses Amt schamlos als Plattform seiner Selbst-Promotion. Er wollte zwar Premier werden und nicht Außenminister, aber immerhin machte der Gastmoderator von „Have I Got News For You?“ heuer Weltpolitik.

Und wie ein heutiger Farage-Unterstützer in seiner klügeren Jugend einmal dichtete: That joke isn't funny anymore.

A propos Nigel Farage: Auch der war in der Vergangenheit drei Mal zu Gast bei „Have I Got News For You?“, wenngleich nicht als Moderator, sondern als Quiz-Teilnehmer. Und er wurde wohl verarscht, aber Bildschirmzeit ist Bildschirmzeit. Dass er 2015 bei der Polizei eine Beschwerde gegen die Sendung einreichte, war insofern ziemlich undankbar.

Die bei weitem größte öffentliche Präsenz bekam dieser selbsternannte Stachel im Fleische des Establishments aber von einer anderen BBC-Redaktion geschenkt.

Obwohl Europaabgeordnete dort sonst überhaupt nie auftauchen, war Farage seit 2000 gezählte 31 Mal Gast bei der politischen Debattensendung Question Time. Darunter am 9. Juni 2016, also zwei Wochen vor dem EU-Referendum, und in der letzten Episode dieses Jahres, nicht einmal mehr in seiner Eigenschaft als UKIP-Chef, sondern wohl als Trump-Flüsterer.

Wie auch im Europa-Parlament zu beobachten, hat Farage kein Problem damit, mit gezielten Provokationen notfalls einen ganzen Saal gegen sich zu vereinen. Er weiß, dass dann die Kamera auf ihm bleibt. Dem Mann, der das Unsagbare sagt, auch wenn der Mob sich gegen ihn wendet. Und aus den Wohnzimmern Großbritanniens fliegen ihm die Spießerherzen zu.

Ohne seine Question Time-Prominenz hätte UKIP – eine Partei, die ihren einzigen Unterhaussitz einem Tory-Überläufer verdankt – nicht Europawahl um Europawahl gewonnen. Vor allem aber hätte Farage David Cameron nicht zum Ausrufen eines EU-Referendums treiben können.

Die BBC hatte den Anführer einer unbedeuteten europhoben Sekte zur heldenhaften Außenseiterfigur hochstilisiert.
Vermutlich bloß, weil er immer für lebhaftes Fernsehen sorgte. Egal, wozu das führt.

(Der Fall einer Produzentin von Question Time, die auf ihrem FB-Profil Links von Britain First teilte, hat dem Ruf der Sendung auch nicht unbedingt geholfen).

Und wenn wir schließlich den Irrglauben einer wahlentscheidenden Minderheit des amerikanischen Volks, Donald Trump sei geeignet zum Boss der Nation, seinen elf Jahren als Hauptdarsteller der Reality-Show The Apprentice verdanken, wollen wir auch nicht vergessen, wer jene autoritäre Karrierismus-Porno-Serie nach Großbritannien importierte.

Die BBC nämlich.

Für eine der Kandidatinnen der britischen Ausgabe, eine gewisse Katie Hopkins, wurde die Serie zum Sprungbrett einer Medienkarriere als Übertroll.

In ihren Kolumnen für die Sun und die Daily Mail hat Hopkins unter anderem Flüchtlinge als „Küchenschaben“ bezeichnete bzw. mit dem Norovirus verglichen.

Das konnte die BBC beim Casting für The Apprentice zugegebenermaßen nicht voraussehen, aber für zwei Auftritte in Question Time waren ihre „kontroversen“ (sprich rasend bigotten und rassistischen) Ansichten schon knallig genug.

Insofern überraschte es mich dann auch nicht mehr, als die BBC Newsnight am 12. Dezember ein prominentes Porträt des jungen Anführers einer gewissen österreichischen rechtsextremen Splittergruppe spielte – im Dienste der von der hiesigen Berichterstattung unermüdlich gepushten These, wonach auch der Kontinent unter dem Druck des Rechtspopulismus dem britischen Konsens folgen und die Bewegungsfreiheit in der EU abschaffen wollen würde.

Sicher, sagte der BBC-Korrespondent Gabriel Gatehouse am Ende seines Features über jenen unbedeutenden Haufen rechter Großmäuler im politisch sonst kaum wahrgenommenen Österreich, noch sei diese rechtsextreme Bewegung eine ganz kleine, aber „nach und nach werden diese Ideen in den politischen Blutkreislauf gespeist.“

Und er sah nicht die Ironie.