Erstellt am: 25. 12. 2016 - 23:00 Uhr
Der Sumpf-Jahresrückblick
Rewind 2016
Der FM4 Jahresrückblick
Es war ein gutes Jahr. Ein gutes Jahr für all die, die glauben, alles geht den Bach runter. Wegen Trump, wegen Hillary, wegen Erdogan, wegen Merkel, wegen des Ansturms auf Europa, wegen Europa, wegen Russland, wegen der USA, wegen des Rechtspopulismus, wegen der Volksvergessenheit der Linken, wegen der Fake News, wegen der Lügenpresse, wegen des Terrors und des Meinungsterrors der Gutmenschen, wegen der Hetzmeuten und wegen der Eliten, wegen you name it. Wohin mit dem Hass, woher das bessere Morgen?
Falls es die Gesellschaft überhaupt gibt, dann besteht sie immer aus sozialen Beziehungen, die man gestalten kann - zum Guten wie zum Schlechten. Didier Eribon zeigt diese Veränderbarkeit als Verlustanzeige der Solidarität. Sein erfolgreiches Büßerbuch "Rückkehr nach Reims" rekapituliert die Klassenvergessenheit der identitätspolitisch fixierten Linken buchstäblich am eigenen Unterleib. Das Schwulsein adelte den weltgewandten Intellektuellen in Paris, für seine provinzielle Arbeiterklassenherkunft schämte sich der Foucault-Biograf bis zuletzt bis auf´s Blut. Am Schluss seiner Anklage gegen sich selbst bringt Eribon dann eine brillante Pointe. Seine Mutter, die einfache, vom Sohn verachtete Frau fragt nach seinem Berufsfeld, der Soziologie: "Hat das was mit Gesellschaft zu tun?"
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Wenn sogar die Soziologie faktenblind sein kann, warum sollte dann der Rest der Welt vor den Experten auf die Knie fallen, zumal viele von diesen jahrelang den Anspruch auf Wahrheit als Faktengläubigkeit denunziert und die Rede davon zum bloßen Diskurseffekt geschrumpft haben? 2016 war daher auch ein gutes Jahr für die Klage über das Postfaktische. Die Klage über die Entwertung der Tatsachen und die Aufwertung der Gefühle verträgt sich ironischerweise bestens mit dem Datenfetischismus der Big Data-Fans und der Big Data-Kritiker. Der Sieg des postfaktischen Rattenfängers Trump, sagen viele, wäre ohne präzise, personifizierte Datenanalyse nicht möglich gewesen.
AFP PHOTO / RHONA WISE
Leider haben wir zu dieser Spekulation aber gerade keine Fakten bei der Hand. Apropos Spekulationen: Es war auch ein gutes Jahr für Künstlergruppen wie El Condre Torrefiel, die in ihrem evidenzgesättigten Stück Guerilla eine nahe Zukunft zeigt, in der auf einer dünnen Erdschicht o lange getanzt wird, bis uns die "ehrliche Schlacht" 2025 erlöst. Der große Krieg zwischen einer Allianz aus Russland und China, Indien und Nordkorea und dem ehemaligen Westen beantwortet auch endlich die Frage, "warum wir in einem Wohlfahrtsstaat leben wollen, wenn wir in Wirklichkeit in einem Ausnahmezustand leben wollen und mit der Gefahr spielen wollen, aber immer nur in kleinen Dosen, wie eine Line Kokain, wie ein Seitensprung, wie Touristen an einem Wochenende am Mittelmeer."
Davor erzählen junge Menschen als Platzhalter davon, dass das Christentum retro, der Islam trendy, Guernica nur ein Bild und das 20. Jahrhundert anekdotisch sei. Das in Barcelona lebende Künstlerpaar lässt seine stummen Schauspieler mit dem Rücken zum Publikum raven und schleudert dazu Sätze über den Rückzug der Erotik und das Lob der Langeweile als Lichtbilder ins Theaterdunkel: "Jahrelang war die ganze Wohnung ein guter Ort zum Vögeln, Aber sobald die Dusche zum Duschen da ist, die Küche zum Kochen, der Tisch zum Essen und der Flur, um durchzugehen, habe ich das Gefühl, dass etwas zu Ende gegangen ist. (…) Unterhaltet mich nicht. Ich will nichts sehen, ich will nirgendwo hin. Behandelt mich wie die Schafe, lasst mich weiden, trinkt meine Milch, berührt ab und zu meine Zitzen und am Ende tötet mich, esst mich und scheidet mich aus, denn das ist das Einzige, was wir gut können."
Es war ein gutes Jahr. Ein gutes Jahr für alle, die sich gern in den sozialen Netzwerken auskotzen oder ihre Anteilnahme zeigen an diesem und jedem. Das habituelle Herumgockeln und Aufplustern im Netz ist sicher auch die Antwort auf das große Nichts, das wir bannen wollen. Wir sprechen gern, damit es nicht still wird um uns. Liket da jemand?
Wenn wir im Netz aber trauern um die überlebensgroßen Väter (seltener um die Mütter), die uns für immer verlassen haben, dann erkennt man: Krisengeschüttelte Musik kennt keine Krise. Man liket sie nicht, man liebt sie.
Wir alle suchen nach Musik, die davon erzählt, wie es ist, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. Angesichts des Todes wird eben nicht alles lächerlich, sondern vor allem vieles erst besonders hörenswert. Prince und Leonard Cohen wurden posthum zu noch größeren Lichtgestalten als sie es jemals waren. Alan Vega bleibt im Herzen, geschützt von unseren Lederjacken. Nick Cave überzeugte durch Scheitern. Sein Album "Skeleton Tree" erschütterte dort am heftigsten, wo die Verkunstung des tragischen Unfalltodes eines seiner Söhne keinen Fluchtweg in Form der geschmacksicheren Todesballade mehr fand.
Und David Bowie hinterließ uns im Zeichen des Krebs ein Album, das an seine beste Zeit anschloss und trotzdem nicht modisch und schon gar nicht altmodisch war. Dementsprechend braucht sein Album "Blackstar" auch keinen Ehrenplatz in unserer Bestenliste 2016. Der Mann lebt sowieso auf einem eigenen schwarzen Stern.
APA/AFP/CHRIS RATCLIFFE
Und zu guter Letzt: Es war ein gutes Jahr für soviel Musik von alten Recken und jungen Spunden. DJ LAG zum Beispiel gab ordentlich Stoff und sorgte als Botschafter des südafrikanischen Gqom-Stils für derbe zappelnde Körper im Tanzfieberwahn. Solange Knowles, die Schwester der dieses Jahr auch wieder einmal mächtig abgefeierten Beyoncé Knowles, machte mit "A Seat at the Table" die Kritikerkonsensplatte des Jahres.
Aber auch an den ausgefransten Rändern der afropolitanen Musik war mächtig was los. Das diesbezügliche Label der Stunde, Non Worldwide, baut sein Netzwerk und sein Stilrepertoire beständig aus. Demnächst wird der Ideenverbund um Chino Amobi, Nkisi und Angel-Ho sogar sein Debüt als Agitpop-Performancetruppe auf der Berliner Theaterbühne geben. Aber auch KünsterInnen wie Klein, Yves Tumor oder Clipping lieferten Alben ab, die Entfremdung als Bedingung der Möglichkeit aufwühlender Konzeptmusik begreifen. Danny Brown nannte sein Album gleich nach einem dystopischen Roman von J.G. Ballard "Atrocity Exhibition".
Dieses Jahr erschienen zudem zwei Bücher, die statt der nicht enden wollenden, nostalgiesatten Historisierung von Popmusik einen Blick auf die neue Unübersichtlichkeit der Gegenwart riskierten. "Pop" von Jens Balzer erzählte von Verweiblichung der Musik im Zeichen der Digitalisierung und vielem mehr. Jace Clayton, der bürgerliche Name hinter DJ Rupture, hing nicht im Berghain oder in den Riesenhallen in Berlin ab wie sein Kollege Balzer, sondern reiste als fahrender Musikant um die Welt. Sein Buch "Uproot Travels in 21st-Century-Music and Digital Culture" verfolgt die Wunder der Hybridität. Es staunt zum Beispiel über Tribal-Nächte in Mexiko oder erläutert den Einsatz von Autotune in marokkanischer Berber-Musik.
So kann man sein Leben also auch 2016 verbringen: Weit weg von dem Ich, auf das man politisch abonniert ist. Auf Reisen. Im Austausch mit all den Ideen und Menschen, aus denen wir gemacht sind.
Sumpf-Jahrescharts
Und das sind unsere 5 Lieblingssongs – bzw. Alben. Von himmlisch heavy bis teuflisch gut.
Fritz Ostermayer
5 Songs (ungereiht) | ||
Steve Lehman | Are You In Peace? | |
William Ryan Fritch feat. Powerdove | Floats By | |
Marvis Staples | Jesus Lay Down Beside Me | |
Murena Murena | Le Van’s Wife | |
Wreck And Reference | Powders | |
Top 5 Alben | ||
1. Die Heiterkeit | Pop und Tod | |
2. Maja Osojnik | Let Them Grow | |
3. Lucinda Williams | The Ghosts of Highway 20 | |
4. Ian William Craig | Centres | |
5. The Slow Show | Dream Darling |
Thomas Edlinger
5 Songs (ungereiht) | ||
Blood Orange | Hadron Collider | |
Jackie Lynn | Smile | |
Suede | Tightrope | |
Ian William Craig | A Single Hope | |
PJ Harvey | Ministry of Defense | |
Top 5 Alben | ||
1: Equiknoxx | Bird Sound Power | |
2: Nick Cave | Skeleton Tree | |
3: Arabrot | The Gospel | |
4: Moormother | Fetish Bones | |
5: Stian Westerhus | Amputation |
Katharina Seidler
5 Songs (ungereiht) | ||
Mitski | Your best American girl | |
Mikael Seifu | How to save a life (Vector of eternity) | |
EYE | Sabine | |
Elysia Crampton | Demon City | |
Princess Nokia | Brujas | |
Top 5 Alben | ||
1. Die Heiterkeit | Pop + Tod I + II | |
2. Exploded View | Exploded View | |
3. Jung an Tagen | Das Fest der Reichen | |
4. Jenny Hval | Blood Bitch | |
5. Nick Cave & The Bad Seeds | Skeleton Tree |