Erstellt am: 23. 12. 2016 - 15:47 Uhr
Zum Glück sind BerlinerInnen so unhysterisch
Es ist fast unheimlich, wie unbeirrt, fast teilnahmslos die Berliner und Berlinerinnen nach dem Anschlag weiter machen. Nach dem Schock am Montag Abend, nachdem nicht nur die Nachrichten-Junkies sämtliche Sondersendungen und Brennpunkte, die immer gleichen Fragen, Expertenmeinungen und Vermutungen auf allen Kanälen stundenlang verfolgt hatten, spricht bereits am nächsten Tag keiner mehr groß über den Anschlag vom Breitscheidplatz. Unterwegs, im Supermarkt, beim Bäcker, in der Autowerkstatt beim Friseur, im Cafe – kein Thema. Fängt man selbst davon an heißt es: "Na ja, war ja klar, dass hier auch mal so was passiert...“
Man fühlt sich selbst fast herzlos, unbeteiligt, so als ob man in einer anderen Stadt leben würde. Liegt es daran, dass der Platz, der in der Presse jetzt als das Herz Berlins bezeichnet wird, für uns so weit weg ist und nicht viel mit unseren Lebenswelten zu tun hat?
Der Breitscheidplatz war das Herz des alten Westberlins, da steht der "Hohle Zahn" - die Ruine der Gedächtniskirche - als Mahnung an den 2. Weltkrieg und daneben die Touri- Attraktionen der Achtziger Jahre: der berühmte Wasserklops und die erste Shopping Mall Berlins, das Europacenter. Gegenüber das berühmte Kaufhaus des Westens KDW. Hier zog es vor dem Mauerfall die Touristen hin. Der Breitscheidplatz, das war das Highlight aller westdeutschen Klassenfahrten.
Nach dem Mauerfall verlor das alte Westberlin an Bedeutung, zum Shoppen gingen die Teens und Twens und fast alle woanders hin. Erst in den letzten Jahren versuchte man die Gegend durch den Neubau von Prunk- Hotels und exquisiten Ladengeschäften wieder aufzuwerten. Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz: ein liebloser "Trash-Markt", eine Touri-Falle, ein paar Holzhütten, eingeklemmt zwischen zwei großen Straßen, "wie hingeschissen" sagte einmal ein Freund angesichts der Trostlosigkeit von Bretterverschlägen, Weihnachtstechno, Chinapfanne und Halber-Meter-Bratwurst-Ständen. Ab und zu, wenn man in den alten Westen musste, fuhr man an dem Platz vorbei - immer ein großes Gewimmel auf der Straße, Busse, Autos, Baustellen viel Verkehr.
APA/AFP/dpa/MICHAEL KAPPELER
Deshalb wollten am Montag zuerst auch alle an einen Unfall glauben. Wer in den Markt fahren wollte, musste eigentlich nur von einer großen Zufahrtsstraße aus geradeaus fahren, hat vielleicht einer die Kurve nicht gekriegt? Betrunkene Polen, eine Rangelei am Lenkrad nach einem LKW-Diebstahl? „Lieber Gott, lass es die Russenmafia gewesen sein“, schrieb eine Freundin per Whatsapp. „Oder noch besser: Die Reichsbürger“, ergänzte eine andere. Denn viele befürchten dass die Hetze gegen Migranten und Geflüchtete jetzt noch zunimmt, sollte ein Geflüchteter die Tat begangen haben.
Dass ist die Angst, die man drei Tage nach dem Anschlag in Berlin hat: Dass die Rechten und Rechtspopulisten den Anschlag benutzen, um Stimmung zu machen und Ressentiments zu schüren. Die Reaktionen kamen ja auch prompt, die AFD sieht die Schuld bereits zwei Stunden nach der Tat bei Angela Merkel, die CSU will am Tag danach die ganze Flüchtlingspolitik neu ordnen (eine Flüchtlings- und Asylpolitik, die ohnehin schon seit Monaten immer mehr verschärft wird). Vor dieser Vereinnahmung hat man hier nun Angst. Aber Angst ums eigene Leben, Angst selbst Opfer eines Anschlags zu werden, hat hier anscheinend keiner.
So unbeeindruckt und ruhig die Berliner alles aufnehmen, so pathetisch und absurd benimmt man sich bei Facebook. Man wurde als Berlinerin am Montag Abend ständig per „SafetyCheck" genötigt, sich als „in Sicherheit“ zu markieren. Leute, die man gar nicht kennt, fragen per Facebook, ob man „in Sicherheit“ wäre. Was soll das alles? Hier wird auf perfide Art eine Besorgnis konstruiert, ein Instrument zur Wichtigtuerei und Hysteriesierung geschaffen. Der SafetyCheck kann ja meinetwegen für Menschen mit Beziehungen ins Ausland von großem Nutzen sein. Wenn zum Beispiel ein Anruf über Ländergrenzen hinweg nicht möglich ist, weil beispielsweise das lokale Telefonnetz zusammenbricht. Aber am Montag Abend in Berlin diente er vorrangig dazu, sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken. Unbeteiligte, die auf dem heimischen Sofa chillen und auf „Safe“ klicken , wirken in einer 3,5 Millionen-Stadt plötzlich wie Helden, wie Überlebende einer Katastrophe, die die ganze Stadt heimgesucht hat. Statt zu beruhigen, trägt die Funktion zur Panikmache bei, suggeriert, die ganze Stadt sei unsicher und jeder vor Ort potentiell in Lebensgefahr.
Die angebliche Besorgnis, der Beruhigungsklick „Bin in Sicherheit" wird zur Farce, zur Wichtigtuerei. Ein kleiner Kick, an diesem weltbewegenden Ereignis dabei gewesen zu sein. Leute, die sich Sorgen machen könnten anrufen oder eine SMS schreiben - aber das kriegt ja keiner bei Facebook mit. Die Markierung „In Sicherheit“ hingegen sagt: Ich bin so kosmopolit - habe so viele Freunde in aller Welt, die sich um mich sorgen- ich kann
nicht allen eine SMS schreiben, ich brauche das Facebook-Safety-Tool!
Facebook ist es vollkommen gleich, ob wir in Sicherheit sind oder nicht - Facebook ist nur an unseren Daten interessiert. Wir sind hier in Berlin nicht im Krieg, es gab kein Erdbeben und keine Naturkatastrophe .
Zum Glück sind die BerlinerInnen sind im Gegensatz zu Facebook herrlich unpathetisch und unhysterisch. Alles läuft weiter wie gehabt.
APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ
Am Anschlagsort werden Blumen hinterlegt, am Dienstag nachmittag sang auf der Straße gegenüber ein Chor mit Passanten zusammen „We are the World“. Am Dienstag versammelten sich etwa 200 AfD - Anhänger (inklusive Parteiprominenz) unter dem Motto "Mehr Sicherheit für Deutschland", zu einer "Mahnwache" vor dem Kanzleramt. In der Nähe des Anschlagortes hatte die NPD zu einer Demonstration unter dem Motto "Grenzen dicht machen" aufgerufen, zu der nach Polizeiangaben rund 130 Menschen kamen. Etwa 800 Gegendemonstranten stellten sich ihnen mit roten Herzen und Plakaten mit der Aufschrift "Keine Nazis, nirgends. Keine Islamisten, nirgends" entgegen.
Am Mittwoch waren dann die großen Berliner Weihnachtsmärkte so voll wie seit Wochen nicht mehr. Der Tenor der befragten Besucher: Wir haben keine Angst, wir machen weiter wie bisher. Am Donnerstag wurde auch der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wieder eröffnet.
Großer Beliebtheit erfreut sich eine Botschaft eines Berliner Journalisten, der in diesen Tagen hier vielen aus dem Herzen spricht: