Erstellt am: 20. 12. 2016 - 20:32 Uhr
A Stone's Throw Away
Es war Anfang Oktober in Louth, einer kleinen Stadt in Lincolnshire, da traf ich Robert Wyatt am Tag nach unserem Interview zufällig am Marktplatz, wo er am Vormittag gern seinen Rollstuhl parkt und dem Gewusel zusieht.
Er erzählte, wie nervös er jetzt schon wegen dieser Sache im Dezember sei. „Paul“ (Weller) habe ihn nämlich angerufen und überredet, trotz seines Ruhestands und seiner langjährigen Verweigerung von Live-Auftritten bei einem Benefizkonzert für Jeremy Corbyn zu spielen.
Benefiz deshalb, weil der Labour-Chef aus Prinzip keine Spenden von Lobbyisten und Konzernen annehme. Und als einer, „der den Badge trägt“ (wo „Jeremy Corbyn“ draufsteht), habe er, Robert, sich dem Drängen Pauls nicht entziehen können.
Ich dachte erst, ich hätte nicht richtig gehört, schließlich spielt Robert schon seit Ewigkeiten nicht mehr live. Und Weller hatte sich erst bei den Unterhauswahlen 2015 noch als Nichtwähler deklariert.
Weil desillusioniert.
Weil eh alle Politiker gleich.
Er irrte natürlich.
Vielleicht war es auch als Kompensation dafür, dass er sich jetzt so überraschend wieder dem politischen Aktivismus zuwandte.
Robert Wyatt dagegen meinte, Paul sei immer politisch am Ball geblieben. Dann hatte er es jedenfalls gut verborgen seit dem Ende von Red Wedge 1987, als er und seinesgleichen mit einer Reihe von Konzerten (erfolglos) für einen Wahlsieg Neil Kinnocks gegen Margaret Thatcher ins Land zogen.
Wyatt war Red Wedge damals fern geblieben. Gerade beim Gründungstreffen war er „als Maskottchen“ dabei gewesen. Als The Sun am nächsten Tag schrieb, der „berüchtigte Kommunist“ Wyatt sei bei dem Meeting gesichtet worden, habe er beschlossen, der Sache durch sein Beisein nicht zu schaden. „Die hatten sich auch ohne mich schon genug zu rechtfertigen.“
Bezeichnend, dass er diese Gefahr dieser Tage nicht mehr zu sehen schien, schließlich ist Jeremy Corbyn beim Medienmainstream sowieso so schlecht angeschrieben, dass es auf einen Ex-Kommunisten in den Reihen seiner Unterstützer_innen auch nicht mehr ankommen würde.
Und Wyatt wollte sowieso nur ein, zwei Songs ein bisschen auf der Trompete begleiten.
Mehr erwartete ich also nicht, als wir zweieinhalb Monate später nach Brighton runter fuhren, um uns im Dome „People Powered“, das erste einer geplanten Reihe von „Concerts for Corbyn“ anzusehen.
Ich sollte hier wohl auch die anderen Bands erwähnen: Stealing Sheep, in ihren schwarz auf weiß gepunkteten Ganzkörper-Anzügen, grooveten und harmonisierten hervorragend, wie die Andrew Sisters wiedergeboren im falschen Jahrhundert.
Temples wiederum fanden den perfekten Ton Ableton-assistierter Psychedelik (Stealing Sheep saßen zu diesem Zeitpunkt in zivil vor uns und stürmten schon beim ersten Temples-Song begeistert Richtung Bühne).
Der Fanboy in mir regte sich dagegen erst, als der (in doppeltem Sinn) große Danny Thompson zum Stimmen seines Kontrabass auf die Bühne kam, während die Weller-Roadies rund um ihn ihre territorialen Tänze abspulten.
Der schließlich in braunen Monkey Boots, Jeans und einem graublauen Mac erscheinende Hauptdarsteller begann sein Set mit dem Song A Stone's Throw Away aus dem heimlich besten Album der 1980er „Our Favourite Shop“ und sang in der letzten Strophe statt „in Chile, in Poland, Johannesburg, South Yorkshire“ unter anderem „South Yemen, East Aleppo“, während Danny Thompson mit energisch vorgestrecktem Kinn die Bass-Saiten zupfte.
Später erst erfuhr ich von Roberts Frau Alfie, dass noch vor zwei Wochen niemand gewusst hatte, ob der 77-jährige Thompson nach einem gerade erst überwundenen Schlaganfall überhaupt spielen können würde. An diesem Abend war er jedenfalls das musikalische Rückgrat einer Besetzung (mit Wellers Zweittrommler Ben Gordelier am Schlagzeug und seinem Erst-Drummer Steve Pilgrim an der akustischen), die nur einen Nachmittag lang geprobt hatte.
Es wurde bald klar, dass der Hauptdarsteller seine Rolle verweigern und allen anwesenden Songwritern gleich viel Platz am Mikrophon einräumen würde. Und obwohl ich Pilgrim als Songwriter mag, spielte er hier schon hörbar in der falschen Liga.
Zumal Wyatt sich statt der paar geplanten Trompetentöne ans Klavier rollen ließ und selbst auch noch drei Songs sang.
Uwe Jonasson
Zuerst eine nicht ganz so rollende Version von Blues in Bob Minor aus "Shleep" (1997).
Gordelier ist eben nicht Wyatt am Schlagzeug, und Weller, der seinen Verstärker wieder einmal viel zu laut aufgedreht hatte, wagte vor Angst, Wyatts Stimme zu übertönen, kaum seine SG zu berühren.
Dann eine kleine improvisierte Brandrede gegen die Mainstream-Medien, gefolgt von Mass Medium aus „Old Rottenhat“ (1985).
And as history slips out of view / Bated breath for the nine o'clock news / Reassembled right before your very eyes: Innuendo, rumour and lies
Und schließlich als letzter Song des Sets das von Weller und Wyatt - vor allem in Dinah Washingtons Version - gleichermaßen verehrte "September in the Rain".
Zwischendurch hatte eine Frau zwei Reihen hinter mir allerlei Anweisungen in Richtung Bühne gebrüllt. „Play more Style Council“ und „Be fucking angry!“
Worauf Paul Weller fucking angry geworden war und mit „I'm not here to be fucking angry, I'm here to play music“ geantwortet hatte.
Man merkte, dass er sich nicht ganz wohl fühlte bei seiner Rückkehr ins politische Engagement. So wie sonst vor einem Publikum zu spielen, das eigentlich nur die alten Songs hören will, ist das Eine (jener Teil seiner Fangemeinde war in diesem Fall wohl lieber gleich zu From The Jam, Bruce Foxtons Tribute-Band an die eigene Vergangenheit, gegangen, die am selben Abend in derselben Stadt spielte).
Ganz was anderes ist aber erst die Erwartungshaltung eines hauptsächlich von der eigenen Tugendhaftigkeit beseelten Benefiz-Publikums, das die Hauptdarsteller seine aufgestauten Vorbehalte spüren lässt.
Wie der von seiner Nikotinsucht an die Kälte getriebene Robert Wyatt später am Bühneneingang enthüllte, hatte Weller ihn unmissverständlich angewiesen, gefälligst was zu singen. Und er habe eingesehen, dass er es tun musste, weil er sich sonst später bloß selbst Vorwürfe gemacht hätte.
Es war also ohne Frage ein sehr spezieller Abend, getrübt nur vom Auftritt eines „ganz besonderen Gastsprechers“, der sich wie vorauszusehen als Jeremy Corbyn persönlich herausstellte.
Er musste so wie wir mit dem Auto nach Brighton gekommen sein, schließlich waren Zugpersonal und Fahrer der desaströsen Bahngesellschaft Southern Trains im Streik, so wie demnächst die Post und große Teile des Flughafenpersonals.
Aber von all dem hörte man in Corbyns Rede nichts Konkretes, genauso wenig wie vom eigentlich unausweichlichen B-Wort.
Wiewohl der Parteichef einen besonders herzlichen Gruß an seinen „Freund“, den oben auf dem Balkon sitzenden Schattenkanzler John McDonnell schickte, der Brexit vor einem Monat als eine „enorme Chance“ für Großbritannien bezeichnet hatte.
Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich kaum mehr daran, was Corbyn sonst sagte, aber es ging eher banal in Richtung „Für das Gute, gegen Schlechtes“ oder „für das Gerechte und gegen Ungerechtigkeit“. Nur der Satz „this is all about Momentum“ blieb mir in Erinnerung.
Momentum ist, wie hier schon erwähnt, jene linke, innerparteiliche Fraktion, die sich bisher geschlossen als Pressure Group hinter Corbyn gestellt hat. Die einigermaßen absurden Vorwürfe, diese überwiegend jugendliche Organisation sei von alten Trotzkist_innen gesteuert, hatten in jüngster Zeit mit Berichten einer Spaltung von Momentum einiges an Glaubwürdigkeit gewonnen.
Erfolgreich einen Parteichef durchzusetzen, das hatte so gar nicht nach Trotzkist_innen geklungen, sich wegen formaler Interna zu spalten dagegen schon.
Vielleicht war es das, was die Stimmung im Brighton Dome während Corbyns abstrakter Rede bei allem Pflichtapplaus doch merklich dämpfte und die Stapel von „Momentum“-T-Shirts am Merch-Stand so beharrlich turmhoch bleiben ließ.
Aber warum um Himmels Willen, sollte sich, wie Corbyn sagte, hier wirklich „alles um Momentum“ drehen? Warum nicht um die Sache? Oder wenigstens um die Labour Party?
Wenn ich vorher von der in Brighton angetretenen Konzertreisegesellschaft als „wir“ schrieb, meinte ich damit übrigens an die zehn Freund_innen und Bekannte aus München, Hamburg und Köln. An englischen Bekanntschaften traf ich – abseits von Leuten auf oder hinter der Bühne – bezeichnenderweise bloß vier, einer davon Robert Wyatt-Biograph Marcus O'Dair. Alle davon waren gekommen, um Wyatt spielen zu sehen.
Eine halbe Woche später verdaue ich hier nun gerade die Tatsache, dass Nigel Farage heute bei einem Schlagabtausch auf Twitter und später noch einmal auf dem Londoner Talk-Radio-Sender LBC doch tatsächlich die Stirn hatte, Brendan Cox, dem Witwer der vor dem EU-Referendum von einem Rechtsradikalen ermordeten Labour-Abgeordneten Jo Cox, Nähe zum Extremismus zu unterstellen.
Weil Brendan Cox die antirassistisch/antifaschistische Plattform „Hope Not Hate“ unterstützt.
Und mir wird bewusst, wie viel genauer Wyatt und Weller mit ihren Bühnenansagen und ihren Songs den Punkt trafen, als der Mann, den sie zu unterstützen gekommen waren.
Red Wedge konnte schon Neil Kinnock nicht über die Ziellinie hieven.
"People Powered - Concerts for Corbyn" hat darauf nicht einmal den Ansatz einer Chance.
Und das ist sicher nicht Schuld der Musiker_innen (oder der Organisatorin Lois Wilson, einer idealistisch motivierten Mojo-Journalistin).
Es ist gar keine Frage mehr. Das progressive Britannien braucht einen anderen Plan.