Erstellt am: 20. 12. 2016 - 14:50 Uhr
Eine Frage der Nähe
Es gibt eine Theorie, die besagt, dass uns Ereignisse immer dann wirklich nahe gehen, wenn sie tatsächlich in der Nähe passieren. Das klingt nach Binsenweisheit, ist aber der Hauptgrund, warum ein Anschlag in Brüssel viele Menschen in Europa mehr erschüttert als einer in Kabul, auch wenn genau das moralisch immer beinsprucht wird. Und diese Binse wird mit der persönlichen Erfahrung erst so richtig greifbar - oft durch kleine Gesten oder Nuancen im menschlichen Verhalten.
Als gestern Abend beim Boxtraining via Smartphone die Nachricht von der Todesfahrt am Breitscheidplatz in der Nähe vom Kurfürstendamm ins Gym flatterte, tat sich sogleich ein schwarzes Loch auf. Wenn es nicht zur Sache geht im Ring oder an den Sandsäcken, ist der Club durchzogen von einer Kakophonie aus verschiedensten Sprachen: Deutsch, Türkisch, Englisch, Russisch. Das Isigym an der Potsdamer Straße ist ein Vergrößerungsglas der kulturellen und ethnischen Vielfalt Berlins. Doch plötzlich war da nur noch Stille. Alle schwiegen für einige Sekunden. In der Ferne konnte man die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hören. Der Kurfürstendamm liegt gut 10 Minuten mit dem Auto entfernt. Die zentral gelegene Einkaufsstraße im "alten Westen" und die Ereignisse waren uns plötzlich sehr nahe. Manch einer fluchte, andere schauten nur ungläubig, schnell leerte sich das Gym.
APA/dpa/Michael Kappeler
„We R Safe“, am Rückweg nach Hause tippte ich diesen Satz ins Facebook, die Safe-Funktion aktivierte ich erst später. Es war eine dieser Berliner Nächte, wo es nicht regnet und trotzdem ist der Boden nass. Nur wenig Menschen waren auf der Straße anzutreffen. Man wechselte flüchtige Blicke. Es war ein gegenseitiges Abchecken, ob man bereits Bescheid wusste. Wusste man. In unserer Straße angekommen, hastete ich beim Italiener vorbei. Alle Gäste und das gesamte Personal starrten auf die Handys. Der Besitzer, ein Freund, blickte kurz auf und sah durch mich hindurch. Einige Meter weiter kehrte ich um und ging wieder zurück. Ich winkte dem Restaurantbesitzer zu. Er winkte zurück. Erst später fiel mir auf, dass das wohl eine Geste der gegenseitigen Versicherung war. Es ist alles okay. Ist es das?
Die lange Nacht des Medienkonsums begann, die Nacht der spärlichen Informationen, der fiebrigen Ermittlungen und der polternden Eiferer, die natürlich sofort wussten, was geschehen war und wer dafür verantwortlich zu machen ist. Er war auch nicht frei von Skurrilitäten. Auf RTL bezogen sich die Moderatoren in einem fort auf Gerüchte und sagten dann: „Apropos Gerüchte, die Polizei warnt davor, Gerüchte zu verbreiten“. Man dachte an München und die Panik, die in manchen Stadtteilen aufkam, als Falschmeldungen durch das Netz und über die Mobiles geisterten.
Doch Berlin blieb seltsam gefasst. Man hatte es erwartet und doch nicht damit gerechnet. Das Thema Weihnachtsmärkte und Sicherheit war eigentlich eines aus dem vergangenen Jahr. Damals redeten alle darüber. Auch wir wollten die Märkte meiden, fuhren dann aber doch mit dem Kleinen zum Schloss Charlottenburg. Doch weiter durch die Nacht: Selbst die Zuschaltungen der ARD vom zerstörten Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz bei der Gedächtniskirche verliefen unaufgeregt und sachlich. Es waren kaum Schaulustige zu sehen. Die meisten Berliner folgten den Aufrufen der Polizei, zu Hause zu bleiben und keine Gerüchte zu verbreiten.
Am Tag danach der erste Telefon-Einstieg in die FM4-Morning Show. Nach dem Entsetzen hatte sich zumindest bei mir eine erste Gefasstheit eingestellt. Dass der erwartete Schrecken auch für eine gewisse Erleichterung sorgt, wenn er sich denn einmal gezeigt hat, ist auch so eine Theorie, die erst in der Praxis Gestalt annimmt. Nach dem Einstieg brachte ich den Kleinen in die KITA, wo niemand über den Anschlag sprach, der um 6:00 Uhr morgens von der Berliner Polizei als solcher bestätigt wurde. „Vorsätzlich“ lautete das Wording auf Twitter. Noch immer keine Informationen zur Identität der Opfer. Die Zahl war über Nacht von 9 auf 12 Tote gestiegen. 48 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.
APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ
Später, bei meiner Umfrage am U-7-Bahnhof Kleistpark, wollte niemand der Befragten den vollen Namen nennen. Sonst wirkten auch diese Menschen gefasst. Die meisten sagten staatstragend, dass sie sich von diesen Anschlägen nicht in ihrer Lebensführung beirren lassen wollten, denn dann hätten ja die Terroristen gesiegt. Ein junger Bursche muslimischen Glaubens beschwerte sich, dass sofort Zusammenhänge zwischen Islam und Terror hergestellt würden, dabei hatte sich doch vergangene Woche bei einem Auto-Crash in ein Geschäftslokal herausgestellt, dass der Herzinfarkt des Lenkers dafür verantwortlich war und kein islamistischer Terrorist, wie zunächst vermutet wurde. Der Junge wirkte dabei weniger zornig als ratlos. Ein Student sagte mit stoischer Mine: „I am from Israel, I am not suprised.“ Eine Frau bestätigte die Eingangsthese über die Nähe zu Ereignissen. Sie erzählte, dass sie in der vergangenen Woche 2 Mal beim Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz war, dass sie schon Angst hätte, sich aber trotzdem nicht beirren lassen wolle.
Als Korrespondent wird man immer nach der „Stimmung“ vor Ort gefragt. Wenn es nicht zu spontanen Demonstrationen, Unmuts- oder Solidaritätsbekundungen kommt, ist das schwer zu beurteilen. Geht man auf die Straße, scheint alles so wie immer: Autos fahren, Menschen ziehen ihres Weges, beim Imbiss herrscht Gedränge. Viele lachen. Von einer stärkeren Polizeipräsenz ist im Alltag außerhalb des Stadtkerns nichts zu bemerken. Aber natürlich ist nicht alles wie immer. Das merkt man vor allem dann, wenn man mit den Menschen spricht. Und wenn man tief in sich selbst hineinblickt.
Die neueste Nachricht von der Hard-Facts-Front: Bei dem gestern Nacht gefassten Mann handelt es sich nun vermutlich doch nicht um den Täter.