Erstellt am: 19. 12. 2016 - 17:28 Uhr
Ausdruckstanz machen Seele auf
Es ist freilich ein spezialsüß – mit Süßstoff - geladenes Tricksen mit Rauch und Spiegeln, mit viel Rauch, mit vielen Spiegeln. Letzten Freitag hat Netflix mit kurzem Promovorlauf quasi aus dem Nichts alle acht Episoden der ersten Staffel der Show "The OA" veröffentlicht und damit noch einmal schnell die Welt ins Taumeln gebracht.
Die Macher Brit Marling und Zal Batmanglij – ein gut erprobtes Gespann für schrullig-gespenstische psychologische Thriller – haben sich mit der Serie ein intensiv duftendes Gemisch aus Mystery und Grusel, bibelhafter Parabel, Sci-Fi und esoterischer Sinnsuch-Fantasie aus weichem Kunststoff ausgedacht.
Zwischen M. Night Shyamalan, Aronofskys "The Fountain" und Malicks "Tree of Life". Zwischen "Lost", "Stranger Things", New-Age-Selbsthilfe-Video und tschechischem Märchenfilm. Das will zu weit gehen und stören, macht das plakativ und eitel, lockt und teast, zweigt anders ab, dreht und wendet sich und überrascht dann doch.
"The OA" ist über Netflix zu sehen.
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Die Ausgangssituation ist spannend konstruiert – es ist tatsächlich nur der Anfang. Oder doch eher ein Punkt auf dem Möbius-Band? Eine junge Frau (Brit Marling) Ende 20, die in der Show den Namen "Prairie" trägt, taucht, nachdem sie sieben Jahre spurlos verschwunden war, unvermittelt wieder im Leben ihrer Eltern auf. Es sind in Wahrheit, das erfahren wir schnell, ihre Zieheltern, das gibt also Raum für Fragestellungen. Vielmehr jedoch: Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war Prairie blind, in der Erzählgegenwart kann sie wieder sehen.
In weiterer Zukunft möchte Prairie bloß noch als "The OA" angesprochen werden. Was der Titel "The OA" bedeuten mag, bleibt lange im Dunkeln, wenn jedoch – es folgt ein minimaler Spoiler – in der Serie das erste Mal das Wort "Angel" gesprochen wird, darf man sich als Zuseher gewieft vorkommen, da man doch sicher jetzt schon ausgecheckt haben dürfte, wofür dieses Kürzel stehen wird.
Das weiß die Show - wenn viele, viele Episoden später die Wörter hinter "The OA" ausbuchstabiert werden, dann geschieht das fast beiläufig, gesprochen wie von einer verwirrten, nicht zurechnungsfähigen Person. Das kann doch alles nicht wahr sein?
Das ist eine Stärke von "The OA". Der Umstand, dass sich die Serie nicht allein in der oft erprobten Selbstreferenzialität und in Meta-Abenteuern genügt, versiert mit Mustern hantiert, sondern auch weiß, dass die Zuseher wissen und dass das Internet existiert. Es glückt eine Verschraubung von Spannung und gebrochenen Erwartungshaltungen, beißenden Nerv-Passagen, Flirts mit Trash und Ironie und gleichzeitiger rührender Ernstmeinung.
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Nach ihrer Rückkehr versammelt Prairie fünf recht unterschiedliche Typinnen und Typen um sich. Klarerweise scheint diese Menschen kaum etwas zu verbinden. Außer, dass sie sich zunächst gegen die Einflussnahme durch die als crazy konnotierte junge Frau sträuben.
In der wunderlichen Bande wird insbesondere Figur Steve zunächst als freiwillig kontaktarm gezeichnet: Halb rüpeliger Jock, halb Teilzeitdrogendealer mit scharfem Hund an der Leine. Stolz gibt er sich schwulenfeindlich und von allen und allem angepisst, innen drin freilich schlägt doch ein zartes Herz, er sehnt sich nach Liebe.
Dazu kommen zwei weitere Highschool-Kids, bislang charakterlich kaum anformuliert, und eine wohlmeinende, werttreue Lehrerin im besten Alter.
Allen gemein ist eine gewisse familiäre Zerrüttung, abwesende Eltern oder verstorbene Familienmitglieder: ein weites, weites Motiv. Die Ideen von schrittweiser Herstellung und Realisierung einer Connection zwischen scheinbar Fremden und Wesensfernen, von alltäglichen Winzigkeiten hinüber ins Spirituelle und gar Metaphysische ähneln hier stark denen der Netflix-Serie "Sense8" aus dem Jahr 2016. Hier werden einander Unbekannte aus diversen Walks of Life und unterschiedlichen Nationen durch höhere Mächte zu einem noch näher zu ergründeten Plan zueinandergeführt.
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In "The OA" trifft sich die Gang der Geeks und Freaks Nacht für Nacht im Geheimen im Dachboden eines verlassenen Hauses. Im Kerzenschein berichtet Prairie ausladend und detailreich im Flüsterton ihre Geschichte. Hier beginnt die Ebenen-Verschiebung und –Überlagerung, verschwommen.
Schnell zieht uns die Show hinein in den Handlungsstrang von Prairies Nacherzählung: Wir hören von einer Nahtod-Erfahrung in ihrer Kindheit bzw. einer Kompletttod-Erfahrung mit nachfolgender Rückkehr ins Leben – und sehen die Erzählung farbprall und opulent poetisierend ins Bild gesetzt.
Wir sehen wie Prairie Jahre später mit anderen Todeserprobten in Kellergefangenschaft eines genialen und ruchlosen Wissenschaftlers gerät. Der Zweck heiligt ihm die Mittel, er erforscht die letzten Dinge zwischen Leben und Jenseits, Himmel, Hölle und grell ausgeleuchteten, kunstvoll verspiegelten existenziellen Warteräumen, in denen knorrige Zauberhexen klischeebeflissen hexenmäßig herumsitzen und nachdenkliche Sprüche murmeln. Die Bilder dazu hat "The OA" auch.
Immer wieder erwischt man sich dabei, kurz die Rahmenhandlung in der Gegenwart der Serie (in blassblauer Tonlage klamm und klassisch mystery-konnotiert) zu vergessen. Zu vergessen, dass wir uns oft bloß in der Geschichte innerhalb einer Geschichte befinden. In Prairies Berichten wiederum: digitaler Hyperrealismus, magischer Realismus bzw. Sur- und Unrealismus, überbelichtete Bluescreen-Gemälde, märchenhafter Zinnober, deftiger Farbenzirkus, eine Ästhetik eines Weihnachtsmarkts aus Plastik und groben Pixeln, er blinkt und funkelt gar weihevoll.
"The OA" spielt hier mit der Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit der Erzählerin, legt falsche Fährten aus. Die Show ist voller Symbolik, Rätsel, versteckter Hinweise. All das muss nichts bedeuten, kann offensiv als Metapher gelesen werden: für Zusammenhalt, ein Glaubenwollen, freie Platzwahl.
Die Show jongliert mit schemenhaften Ausformungen des Übersinnlichen, Religiösen, Außerweltlichen. Wir dürfen lernen, dass ein im Gruppenverband aufgeführter Ausdruckstanz, eine Art musicalhaftes Tai-Chi der Entrückung, ein Ärgernis in Bewegung, ein Portal in andere Dimensionen zu öffnen imstande sein soll.
Immer wieder, auf allen Ebenen, taucht die Farbe Violett auf, von Dunkelsatt bis Sanftpastell – in Gestalt von Kleidungsstücken, auf Plakaten, kleinen Applikationen da und dort, Blumen, Verpackungsmaterial, die Locker im gesamten Sportler-Umkleideraum der High School: Lila.
Was mag es uns verheißen? Sicherlich bloß ein weiteres schön ausgelegtes Kuckucksei, um Reddit zu befüllen. Natürlich gilt Violett auch als die Farbe des Mystischen, des Magisch-Feierlichen.
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Einer der zentralen Twists in der letzten Episode von "The OA" ist einer, den man kennt: das Hinterfragen von Schein und Sein, der Gemachtheit von Geschichte und Film. Es wird dann aber wieder anders. Das Pathos der Show wird in die Lächerlichkeit überführt, um später wiederum doch Früchte zu tragen.
Es müssen Fragen bleiben. Beispielsweise die danach, wieso ein Mann mit potenziell todbringender Tomaten-Allergie eine ihm nahezu Unbekannte nicht darum bittet, doch keine Tomaten zu verwenden, als sie dabei ist, ihm in seiner Küche einen üppigen Gemüseeintopf zuzubereiten. Warum hat er überhaupt Tomaten zuhause?
Selbst im verbogenen Kosmos (den Kosmen?) einer Show wie dieser, die alle Gesetze der Vernunft aushebelt, hapert es mit der Logik. Viele Figuren bleiben leer, Dialoge sind nicht das Wichtigste, dennoch gelingt "The OA" vieles: Ein neuer Umgang mit Cliffhangern, die Erzeugung eines herrlichen Suchtgiftes, eine verworrene Art des Erzählens. Ein schwer unterhaltsames Kippbild als Zugang in eine Twilight Zone, in der prächtig der Flieder blüht.