Erstellt am: 19. 12. 2016 - 16:24 Uhr
Kontrolle abgeben
Viele, viele Jahre haben wir darauf gewartet und manche hatten es schon ganz abgeschrieben. Dann war es Anfang Dezember plötzlich da: "The Last Guardian", jenes beeindruckende Computerspiel, das von einem riesigen Fabelwesen und seinem jungen, menschlichen Begleiter erzählt.
"The Last Guardian" ist der dritte Teil einer unkonventionellen Spieletrilogie, ersonnen vom japanischen Gamedesigner Fumito Ueda. Begonnen hat alles mit "ICO" (2001), gefolgt von "Shadow of the Colossus" (2005). Wie immer in Uedas Spielen, sind wir auch dieses Mal in den Ruinen einer antiken, längst untergangenen Zivilisation gelandet und dort weitgehend alleine - bis auf den einen Begleiter, die oder der eine sehr wichtige Rolle einnimmt. Bei "ICO" war es ein geisterhaftes Mädchen, bei "Shadow of the Colossus" ein Pferd. Nun ist es ein tierischer Gigant.
Sony Computer Entertainment
Ein ungewöhnliches Duo
Ein Bub im Alter von circa 12 Jahren erwacht vor einem kleinen, verfallenen Tempel. Ringsherum sind Felswände, die Sonne strahlt auf das Gras und die Steine ringsherum. Vor uns liegt ein riesiges, angekettetes Tier, eine Mischung aus Vogel, Ratte und Katze. Auf den ersten Schreck folgt bald Neugierde. Wir klettern erstmals auf das Tier und ziehen ihm ein paar Speere aus dem Fell, die ihm Schmerzen zufügen. Der erste Schritt zu einer wunderbaren Freundschaft.
Spielkultur auf FM4:
fm4.ORF.at/games
Immer wieder schaltet sich eine ältere Erzählstimme ein; ein Mann, der offensichtlich vom unvergleichlichen Abenteuer aus seiner Kindheit berichtet: Damals, als er mit dem riesigen Fabelwesen Trico mysteriöse Ruinen erkundet hat. Das Wesen verhält sich wie ein Hund: Es ist launenhaft, aber auch zutraulich, lässt sich gerne streicheln und baut zu uns Zug und Zug eine Beziehung auf. In erster Linie dient uns Trico als eine Art überdimensionales Pferd: Wir können auf ihn raufklettern um höher gelegene Ebenen der Ruinenstadt zu erreichen und halten uns an seinem Fell fest, damit er mit uns über riesige Abgründe springt.
In den Hintergrund treten
"The Last Guardian" ist ein Spiel, bei dem wir Kontrolle abgeben müssen. Es geht zwar auch ums geschickte Laufen, Klettern, Springen und das Lösen diverser Puzzles. In erster Linie müssen wir aber auf Trico achten, seine Launen kennen und verstehen lernen und vor allem geduldig sein. Wir können ihm Anweisungen zum Bewegen in eine bestimmte Richtung oder zum Springen geben. Ob er dann allerdings folgt, steht auf einem anderen Blatt.
Trico ausgeliefert zu sein, ist auf lange Sicht leider mehr Fluch als Segen. Ist man am Anfang noch von den sehr realistischen Bewegungen und Verhaltensweisen des Tieres beeindruckt, überwiegt später der Frust über seine Unberechenbarkeit. Immer wieder minutenlang darauf warten zu müssen, bis Trico sich endlich dazu bequemt, auf einen Felsvorsprung zu hüpfen, durch eine Höhle zu tauchen oder sich auf eine Wand zu lehnen, damit wir eine bestimmte Ebene erreichen, ist lähmend und steht der ansonsten fantastischen Atmosphäre des Spiels im Weg.
Sony Computer Entertainment
Der Umstand, dass wir fast immer auf das Tier angewiesen sind, um weiterzukommen, lässt es bald von einem klugen, treuherzigen Begleiter zu einer nervtötenden Bürde werden. Das ist schade, weil Tricos Wesensart und Aura prinzipiell faszinierend sind. Hätte man in der Erkundung und Aneignung der virtuellen Welt mehr Möglichkeiten und Freiheiten und würde einem das Tier auch mal eine längere Weile lang von der Seite weichen, könnten diese negativen Momente minimiert werden. Stattdessen wird einem das Beisammensein mit Trico in manchen Momenten noch penetranter gestaltet als es ohnehin schon ist; dann nämlich, wenn es in manchen Rätselaufgaben darum geht, Futter (in Form seltsam glühender Fässer) für das Tier zu finden und zu ihm zu schleppen. Auch unverständlich ist, warum wir uns mit Trico so oft durch enge Gänge und Höhlen zwängen müssen, wenn die Außenumgebungen so viel eindrucksvoller sind.
Herumgestolper
"The Last Guardian" ist exklusiv für Playstation 4 erschienen.
Erschwerend kommt hinzu, dass unsere Spielfigur ein Eigenleben hat und sich entsprechend schlecht steuern lässt. Unser Charakter stolpert und purzelt tollpatschig wie eine Ragdoll-Puppe durch die Gegend, was im Lauf des Spiels für viele unnötige Abstürze in die Tiefe sorgt. Daran ist auch die Kamera schuld, die bockig ist und sich oft wild und unkontrolliert herumdreht. Das führt nicht selten dazu, dass wir nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. All das sind Probleme, die bei den zwei Vorgängerspielen von Fumito Ueda in dieser Intensität nicht vorgekommen sind und bei einer Entwicklungszeit von knapp zehn Jahren auch eigentlich ausgemerzt sein sollten.
Sony Computer Entertainment
FM4-Kollege Rainer Sigl sieht das auf Videogame Tourism etwas anders.
Wer diese markanten Schwächen hinnimmt, wird mit wundersamen Umgebungen, monumental-archaischer Architektur und einigen ergreifenden Momenten belohnt. Die besondere Freundschaft von Mensch und Tier in "The Last Guardian" ist etwas, das als Computerspiel in dieser Form, Konsequenz und Glaubhaftigkeit einzigartig ist. Es ist zu Recht das neue Poster-Game, wenn es darum geht, zu zeigen, dass digitale Spiele mehr können als uns bloß mit grellen und aufdringlichen Oberflächen und Interaktionen zu überrumpeln. Man kann sich dem Charme und der Imposanz von Trico nicht entziehen. Doch nur, wer eine große Portion Geduld und Nachgiebigkeit mitbringt, wird beim und nach dem Spielen ebenso enthusiastisch und ergriffen sein wie zu Beginn der Reise.