Erstellt am: 15. 12. 2016 - 11:27 Uhr
"Wählen schadet der Demokratie"
Das war ja zu erwarten: Kaum wählt der Pöbel ein paarmal nicht so, wie sich das die Elite erwartet, schon kommt der erste Intellektuelle daher und will Wahlen gleich ganz abschaffen. Ist Demokratie also wirklich nur solange erwünscht, solange das richtige Ergebnis dabei herauskommt?
Nein, David van Reybroucks Essay „Gegen Wahlen“ eignet sich nicht für rechtspopulistische Verschwörungstheorien – trotz des plakativen Titels. Er zielt – bereits am Untertitel Warum Abstimmen nicht demokratisch ist erkennbar – in die genau entgegengesetzte Richtung. In einer systematischen Analyse fragt er sich, welche Ursachen die derzeitige Systemkrise hat – und wie der Demokratie geholfen werden kann. Die Kapitel tragen die Titel Symptome, Diagnosen, Pathogenese und Therapie.
Die Krise der Demokratie
Wallstein Verlag
Für David van Reybrouck – und nicht nur für ihn – ist die Demokratie in einer tiefen Vertrauenskrise, in einer Legitimitäts- und Effizienzkrise. Zwar ist sie inzwischen das weltweit häufigste und auch populärste politische System, gleichzeitig herrscht zwischen ihren Institutionen und der Bevölkerung tiefes Misstrauen – und zwar gegenseitiges. Für den Autor ist der Zustand bereits Besorgnis erregend.
Die Versuche, diesen Krisen zu begegnen, sind selbst ihr Ausdruck oder gar Verstärker: Rechtspopulisten versprechen starke Führung und den Austausch der politischen Eliten, obwohl sie selbst Teil dieser Eliten sind. Außerparlamentarische linke Bewegungen wie Occupy oder die spanischen Indignados stellen das System der parlamentarischen Repräsentation ganz in Frage. Und die Eliten selbst wollen zumindest die Effizienzkrise mit technokratischen Expertenregierungen meistern – womit sie die Legitimitätskrise noch verschärfen.
Und an all dem sollen die Wahlen schuld sein?
Kann es eine Demokratie ohne Wahlen geben? Gegenfrage: fällt uns nicht etwas Besseres ein?
Unsere Demokratien, meint David van Reybrouck, leiden an Wahlen: an den Wahlkämpfen, die die Gesellschaft spalten, und in denen es immer weniger um Sachthemen geht; an den Medien, deren Auflagen- und Quotenfixierung die öffentliche Debatte weiter polarisiert und emotionalisiert; an den Umfragen, die die Öffentlichkeit in einem Zustand des permanenten Wahlkampfs halten; an der Herausbildung eines elitären Polit-Adels, dessen Personal nicht der Wähler und die Wählerin, sondern Parteigremien bestimmen; am Lobbyismus, der die Volksvertretungen an der Vertretung des Volkes hindern und sie zur Vertretung von Einzel-Interessen bewegen will.
David Van Reybrouck
Dass wir heute Demokratie mit Wählen gleichsetzen, ist für van Reybrouck das Grundübel, das hinter dem derzeitigen Demokratiemüdigkeitssyndrom steckt. Andere Pfeiler der Demokratie – wie die grundlegenden persönlichen Rechte und Freiheiten des Einzelnen, die Rechtsstaatlichkeit oder die Gleichwertigkeit aller Menschen, geraten in den Hintergrund. Vor allem aber schränke die Gleichsetzung von Demokratie und Wählen die Gestaltung unseres politischen Systems viel zu sehr ein.
Abstimmen ist nicht demokratisch
Van Reybrouck hält uns für Wahlfundamentalisten, die eine Methode zur Ausübung von Demokratie mit dem System als solchem gleichsetzen. Und historisch gesehen passe das Wählen gar nicht wirklich zur Demokratie. Den Hammersatz hierzu hat er sich beim französischen Politikwissenschafter Bernard Manin ausgeborgt: „Gegenwärtige demokratische Systeme sind aus einer politischen Ordnung hervorgegangen, die von ihren Begründern als Gegenentwurf zur Demokratie gedacht war.” Das sahen Aristoteles, Russeau und Montesquieu ähnlich: Abstimmen war für sie das Auswahlverfahren der Aristokratie – demokratisch sei stattdessen das Losverfahren.
Lenny Oosterwijk
David van Reybrouck ist ein erfolgreicher flämischer Theaterautor, vor vier Jahren ist sein fulminantes Buch „Kongo – eine Geschichte“ erschienen. Van Reybrouck ist Vorsitzender des flämischen PEN Clubs und Gründungsmitglied der belgischen Bürgerplattform G1000.
Das Losverfahren spielte in den ersten 3000 Jahren der Demokratie eine weit größere Rolle als in den letzten zweihundert Jahren, so van Reybrouck. Heute kommt es praktisch nur noch bei Geschworenenprozessen zur Anwendung, während im antiken Athen sogar Verwaltungsposten unter den männlichen Bürgern für die Dauer eines Jahres ausgelost wurden, auch die italienischen Stadtstaaten der Renaissance haben Ämter und Repräsentanten ausgelost.
Heute erlebt das Losverfahren wieder eine Renaissance, als Element in Bürgerbeteiligungsprozessen, etwa beim Entwurf einer neuen Isländischen Verfassung, beim irischen Verfassungskonvent oder bei regionalen Entscheidungsprozessen in Kanada.
Für David van Reybrouck hat das Losen enorme Vorteile: weil Amtszeiten begrenzt sind und jeder nur einmal amtieren darf, kann sich keine Polit-Aristokratie herausbilden. Weil das Los jeden treffen kann, kann sich auch jeder für die Gemeinschaft einbringen. Weil der Zufall die Volksverteter*innen auswählt, gibt es keine Wahlkämpfe. Weil einfache Bürger*innen regieren, gibt es keine Distanz zwischen Regierungen und Regierten.
Können die das?
Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass jeder Mensch auch das Zeug (oder die Lust) hat, die Geschicke des Gemeinwesens mitzulenken. Deswegen waren auch Losverfahren in Antike und Renaissance immer kombiniert mit anderen Auswahlmethoden. Und obwohl David van Reybrouck in der ersten Hälfte seines Buchs vehement unsere Vorstellung von Wahlen als konstituierendes demokratisches Element attackiert, zeigt er sich in seinen Therapievorschlägen weit weniger fundamentalistisch.
Um die Schwächen einzelner Methoden auszugleichen, plädiert er dafür, unterschiedliche Verfahren demokratischer Mitbestimmung zu kombinieren: Losverfahren, Wahlen, Abstimmungen und Freiwilligkeit – und die Prozesse einer ständigen Evaluation zu unterziehen.
Van Reybrouck stellt historische und aktuelle Verfahren zur Auswahl von Regierungen und Volksvertreter*innen vor, entwirft ein utopisches Modell für einen modernen Staat und kann sich auch vorstellen, zumindest in einer Übergangsphase, gewählten Parlamentskammern ausgeloste gleichberechtigt zur Seite zu stellen.
”Gegen Wahlen“ ist aus David van Reybroucks Engagement bei der belgischen Demokratiebewegung G1000 entstanden. G1000 hat sich in der belgischen Demokratiekrise Anfang des Jahrzehnts gegründet, als es den Politikern im Land anderthalb Jahre nicht gelang, nach Neuwahlen eine Regierung zu bilden.
G1000 hat in einem offenen Prozess in mehreren Phasen unter möglichst großer Beteiligung der Zivilgesellschaft alternative Formen der Mitbestimmung ausgelotet, ausprobiert und evaluiert, die nicht auf Zuspitzung und Konfrontation, sondern auf Konsens hinarbeiten, und die nicht die Entstehung einer politischen Kaste fördern, sondern auf möglichst breite Beteiligung setzen.
Ein Manifest für die vielfältige Demokratie
"Gegen Wahlen" ist eine Streitschrift, ein intelligent aufgebautes, gut lesbares und stringent argumentiertes Manifest für eine, auch in ihren Methoden, vielfältige Demokratie. Dass die auf den ersten Blick radikal anmutenden Vorschläge auf große Skepsis stoßen, war wohl zu erwarten. Ob sie einfach umzusetzen sind (und ob diejenigen, die Macht abgeben müssten, dazu bereit wären) sei auch einmal dahin gestellt.
Nichtsdestotrotz ist David van Reybroucks Buch ein überzeugender Denkanstoß für die hochnotwendige Debatte zur Erneuerung unserer Demokratie.