Erstellt am: 31. 1. 2017 - 11:56 Uhr
Vier Leben in einem
Bevor Paul Auster mit seinem Manuskript begonnen hat, wird er sich wahrscheinlich große Bögen Papier rund um seinen Arbeitsplatz aufgehängt haben. Zumindest habe ich so versucht, das wahnsinnig umfangreiche Personenensemble in „4 3 2 1“ zu begreifen - Dostojewskij, Tolstoi und Co wären neidisch gewesen.
FM4 Literatur
Weitere Buchempfehlungen gibt es hier.
Also beginnt „4 3 2 1“ wie ein Familienepos. Am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts strandet Isaac Reznikoff aus Minsk am Hafen von New York. Er ist mit dem Schiff angereist, und als er nach seinem Namen gefragt wird, bringt er nur ein jiddisches „Ich hob fargessen“ heraus. "Ichabod Ferguson", der Großvater des späteren Protagonisten, ist geboren.
Die Geschichte von Ichabod, der seinen Sohn Stanley Ferguson bekommt, der wiederum Rose Adler heiratet, wird akribisch erzählt. Ganz untypisch für einen Auster, in seinem Detailreichtum erinnert er eher an einen Gesellschaftsroman von Jonathan Franzen. Wir erfahren auch alles über Archie, den Sohn schließlich von Stanley und Rose. Und er wird als Figur zum Dreh- und Angelpunkt des Romans.
Zufälle, die das Schicksal entscheiden
Nachdem wir Archie kennengelernt haben, beginnt Paul Auster mit seinem Experiment und der Suche nach der Antwort, was es mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Phantasie, mit Zufall und Schicksal auf sich hat. Wie ein Leben sich unter verschiedenen Umständen anders entwickelt, auch, wenn die Grundvoraussetzungen dieselben sind.
Rowohlt
"4 3 2 1" von Paul Auster erscheint in einer Übersetzung von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl im Rowohlt Verlag.
In "4 3 2 1" gibt es vier Archies, sprich: Wir lernen Archie viermal als Teenager, viermal als Studenten, viermal als Erwachsenen kennen. Ein Leben in vierfacher Ausführung, und während der Lektüre sollte man alle vier Stränge im Hinterkopf behalten. Die Geschichten sind nämlich nicht voneinander getrennt erzählt, sondern verwoben. Man merkt an der Kapitel-Einteilung, von welchem Archie gerade die Rede ist (zum Beispiel: Archie 1 in Kapitel 1.1, 2.1, 3.1 usw.).
Viermal also Highschool-Chaos, Pubertät, Ferienlager und zerbrochene Freundschaften. Viermal verlieben und nicht zurück geliebt werden. Aber nicht alle Archies leben gleich lange, so bleibt die Spannung vorerst aufrecht.
Zusätzlich zu den privaten Archie-Geschichten webt Paul Auster auch die Zeitgeschichte mit hinein. Er wächst mit John F. Kennedy auf, dem Helden seiner Kindheit, dem er wie eine ganze Generation auf dem Bildschirm nachweint. Archie wird wegen gesundheitlicher Gründe nicht zur Army berufen, erlebt den Vietnamkrieg aber von zuhause aus, und am Rande auch die Studentenproteste an der Columbia University im Frühjahr 1968.
.... aber nie vollkommen verschieden
Es gibt aber auch geschichtenübergreifende Konstanten: So zum Beispiel verstirbt Archies Vater schon sehr früh, an einem Unfall in seiner eigenen Firma. Dieser Tod ist prägend für jede weitere der vier Entwicklungsgeschichten des jungen Archie.
Ich war ein Einzelkind. Mein Vater war mein einziger Vater gewesen und meine Mutter dessen einzige Frau. Nun war sie niemandes Frau, und ich war ein vaterloser Junge, der Sohn einer Frau, aber keines Mannes mehr.
Eine weitere Leseprobe gibt es hier.
Auch seine große Liebe Amy, einmal verwandt, einmal nur bekannt, ist im Nachhinein betrachtet die Person, um die sich der Großteil seines (Liebes-)Lebens dreht.
Austers Versuch, einem Menschen vier Schicksale aufzubürden, ist mehr als spannend. Es hätte den einzelnen Geschichten aber gut getan, wären sie noch etwas krasser voneinander zu unterscheiden. Archie ist immer sehr belesen und schreibwütig (mal Prosa, mal seine eigene Zeitung, als er gerade einmal zehn Jahre alt ist), wächst mit seiner Mutter auf, eine schöne Bohème, eine unerschrockene, wunderbare Frau, die der wichtigste Mensch in seinem Leben ist. Wäre ein Archie in Lissabon alleine, ein weiterer in Oslo bei seinem Stiefvater und ein weiterer in Melbourne bei seinen Großeltern aufgewachsen, hätte das Experiment vielleicht noch deutlicher veranschaulicht, auf was Auster hinauswollte.
Lotte Hansen
Archie ist noch dazu ein so braver, lieber, guter Junge (teils autobiographisch inspiriert sein, wie schon im zuvor erschienenen „Winterjournal“) – ab und zu schwankt man als Leser von Empathie zum Gefühl überstrapazierter Nerven.
Sie gaben stets nach, wenn er vernünftig wie ein Erwachsener mit ihnen sprach, denn wenn Ferguson in Form war und nicht unter seinem Niveau, also ungefähr die halbe Zeit, gab es kaum jemanden auf der Welt, der so nett und so liebevoll war wie er, seine Augen so anmutig strahlend und voll echter Zuneigung, dass kaum jemand ihm widerstehen konnte (...)
Am 3. Februar 2017 wird Paul Auster 70 Jahre alt. Und auch, wenn er das nie offen gesagt hat, wollte er mit „4 3 2 1“ wohl seiner literarischen Karriere einen großen Meilenstein, für viele seinen größten, hinzufügen. Im Erzählen lässt er diesem für ihn ganz neuen Detailreichtum und den oft überstrapazierten Schachtelsätzen, zu freie Hand. Sie lassen manches Geschehene unnötig erscheinen. Eine abgespeckte Version der vier Geschichten hätten diesen Epos vielleicht noch ein bisschen stärker glänzen lassen.