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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

10. 12. 2016 - 15:32

Eine Postkarte für Aslı Erdoğan

Der Autorin Aslı Erdoğan droht lebenslange Haft, weil sie über die Lage von KurdInnen in der Türkei berichtet. Am Internationalen Tag der Menschenrechte wird aufgerufen, ihr zu schreiben.

Das Cover des Romans"Die Stadt mit der roten Pelerine" hat Mohnblumen

Unionsverlag

Aslı Erdoğan: Die Stadt mit der roten Pelerine", ins Deutsche übersetzt von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch, Unionsverlag.

Mit 24 ist Aslı Erdoğan eine der wenigen weiblichen Physiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf. Sie gehört jener Forschungsgruppe an, die das ATLAS-Experiment begründet. Heute, mit 48, ist sie eine von 100.000 TürkInnen, die seit Juli entlassen oder inhaftiert worden sind. Der Grund: All diese Menschen gelten als GegnerInnen Recep Tayyip Erdoğans.

Aslı Erdoğan wird in einem Istanbuler Gefängnis festgehalten. Vorgeworfen wird ihr: "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation". Als Beweismittel hat das Gericht einzig ihre Artikel für die kurdisch-türkische Zeitung "Özgür Gündem". In einem Brief schreibt sie: "Mehr als 130 JournalistInnen sind in Haft - ein Weltrekord. 170 Tageszeitungen, Magazine und Radio- sowie Fernsehsender sind in zwei Monaten geschlossen worden. Unsere derzeitige Regierung will das Monopol auf 'Realität' und 'Wahrheit'".

Eine der bekanntesten AutorInnen der Türkei

„Polizeigewalt ist für mich nichts Unbekanntes, ich komme aus einer politischen Familie“, sagt Aslı Erdoğan 2011 am Grazer Schloßberg, während der Regen auf die Laube beim Cerrini-Schlössel prasselt. Als "Writer in exil" verbringt sie einige Monate in Graz. Aslı Erdoğan zählt zu den bekannten türkischen AutorInnen der Gegenwart und ihre Romane werden mit den wichtigen Literaturpreisen ihres Heimatlandes ausgezeichnet.

Immer wieder lebt die zierliche Frau in fremden Ländern, sie wird zu Arbeitsauftenthalten eingeladen. Immer wieder kehrt sie in die Türkei zurück, weil sie Land und Freunde vermisst.

Zu schreiben beginnt die Physikerin und Informatikerin schon in ihren Jahren am CERN. Die Arbeitstage dauern vierzehn Stunden, in den Nächten schreibt Aslı Erdoğan an ihrem ersten Roman. In deutscher Übersetzung liegen die Romane "Der wundersame Mandarin" und "Die Stadt mit der roten Pelerine" vor, der einer Frau folgt, die sich in Rio de Janeiro zunehmend verliert. Auch in Rio de Janeiro arbeitete Erdoğan als Physikerin und an ihrer Dissertation. Angesprochen auf ihre Persönlichkeit antwortet Asli mit der Metapher eines Hauses: "Das Wohnzimmer liegt in meinen Büchern".

Aufruf, Asli Erdogan eine Postkarte zu schicken

Radio FM4

10. Dezember, Tag der Menschenrechte: Vergesst mich nicht und vergesst nicht meine Bücher, es sind meine Kinder, schreibt Asli Erdogan aus dem Gefängnis. Man kann ihr antworten und ihr eine Postkarte schicken

Gegen die Unterdrückung

Nachdem Zeitungsherausgeber sie um Kolumnen bitten, kritisieren sie die ersten Texte als "zu literarisch". Bald werden manchen Aslı Erdoğans Kolumnen wiederum zu politisch. Was für eine radikale Person sie geworden wäre. Das musste sich Aslı Erdoğan von jenen anhören, die ihre Romane hoch schätzten. "This wall of silence is rising and it is very, very big", stellt Erdoğan schon vor vier Jahren fest, weil sie die Ignoranz selbst zu spüren bekommt. Aslı Erdoğan interessiert sich für die Lage der KurdInnen. Sie greift reale Gewaltverbrechen auf und macht sie in ihren Kolumnen seit 2009 publik. Damit bricht sie Tabus, die sie niemals für Tabus gehalten hätte.

Sie schreibt über die Haftbedingungen politischer Gefangener und über kurdische Mädchen, die von Kämpfern paramilitärischer Einheiten vergewaltigt worden sind. Einer ihrer ersten Artikel endet mit einem Zitat aus einem Autopsiebericht: Das getötete Mädchen wurde mit einem Bajonett vergewaltigt, sie war geistig zurückgeblieben. Die Täter kamen davon. Paramilitärische Einheiten, ausgebildet und vom türkischen Militär mit Waffen ausgestattet, herrschten in kurdischen Dörfern.

Warnende Stimme

Seit vier Monaten wird die Autorin in einem Gefängnis festgehalten. Gesundheitlich geht es ihr nicht gut, berichtet der Schriftsteller Yusuf Yeslöz. Am 29. Dezember steht Aslı Erdoğan zum ersten Mal vor Gericht.

In einem Brief, der von MedienvertreterInnen dank ihrer zahlreichen Arbeitsaufenthalte in mehreren europäischen Ländern geteilt wird, schreibt sie: “Ich bin überzeugt, dass ein totalitäres Regime in der Türkei Auswirkungen auf ganz Europa haben wird“.