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Gerlinde Lang

Innerlichkeiten. Äußerlichkeiten.

9. 12. 2016 - 15:29

Rasante Fahrt zur Hölle

Allein gegen den Taliban: Saphia Azzeddine schafft mit "Bilqiss" die scharfzüngigste Buchheldin seit Langem.

Mädchen liest Koran

Asma'a Musleh

Begeben wir uns zum Arsch der Welt.
Ein Dorf mitten im afghanischen Nirgendwo (obwohl das nie genau benannt wird), unter der Knute der Taliban (obwohl der nie genau beim Namen genannt werden), wo die Frauen entrechtet und die amerikanischen Soldaten als Besatzer auch keine Heilsbringer sind. In diesem Setting lässt die französische Autorin Saphia Azzeddine ihre Heldin auftreten: Bilqiss, die sich den Mund nicht verbieten lässt.

Ich wusste, dass Augenbrauenzupfen verboten war, denn es verfälschte die Schöpfung Gottes. Nichts durfte verändert werden, und wir sollten zu Ihm heimgehen, wie Er uns geschaffen hatte. Selbstverständlich galt diese Regel nicht für die Frauen, die nach einer Steinigung mit zerfetztem Gesicht vor Seine Pforte traten. Die durften nach Belieben entstellt werden, Hauptsache, der Bogen unserer Augenbrauen war nicht nachgezogen.

Die Ich-Erzählerin steht knapp vor ihrer eigenen Steinigung und trotzdem ist ihre Geschichte so verdammt rasant und verschmitzt-ironisch geschrieben. Saphia Azzeddine schafft dieses Meisterstück als Geschichtenerzählerin. Die junge Bilqiss hat als kinderlose Witwe noch weniger Platz in der von Fundamentalisten beherrschten Dorfwelt als die anderen entrechteten Frauen.

Afghanische Frauen in blauen Burkas

APA/AFP/AREF KARIMI

Mit dreizehn hatte man mir verboten, weiter die Schule zu besuchen. Im Jahr darauf war sie wegen Anstiftung zur Unzucht niedergebrannt worden. Ich hatte also nur ein Jahr Unterricht versäumt. Das war ein schwacher Trost. Ich hätte meine Lehrerin gerne länger gesehen, doch eines Tages hatte sie sich die Pulsadern aufgebissen, weil man ihr alle Messer weggenommen hatte.

Als Bilqiss statt des skandalös betrunkenen Muezzins zum Gebet ruft, wird sie verhaftet und ihr der Prozess gemacht. Doch wie seltsam: Der Richter zögert den Urteilsspruch hinaus, um sich heimlich jeden Abend im Gefängnis noch mehr Blasphemien von Bilqiss anzuhören.
1001 Nacht lässt grüßen, zwischen all den deprimierenden und grotesken Momenten. Zum Beispiel, wenn amerikanische Soldaten in Bilqiss‘ Hinterhof auftauchen.

Fauve Lapijower

Autorin Azzeddine, *1979

Was Dick betraf, so würde er nicht auf die Rückkehr in sein Land warten, um zusammenzubrechen. Ich ahnte, dass in diesem zerbrechlichen, mit Psychopharmaka vollgestopften und von Red Bull durchtränkten Mann, der sich mir anvertraute, während seine Hose, Boxershorts und Strümpfe auf eine Leine in meinem Garten in der Sonne trockneten, bald die Sicherungen durchbrennen würden. Bei seinen Einsätzen machte er sich regelmäßig in die Hose und seit Kurzem sogar bei Kontrollgängen. Um seine Vorgesetzten nicht zu beunruhigen, kam er zu mir, um sich zu waschen, und erzählte mir dabei von seinem vorigen Leben, das „nicht unglaublich, aber trotzdem viel cooler war als heute“.

Azzeddine hat mit Bilqiss eine Frau erschaffen, die nicht gerettet werden will. Die im Angesicht des Todes alle entlarvt, von den grausamen Fundamentalisten, über die geistig kaputten amerikanischen Besatzer, den britischen Reisefotografen, bis zur sentimentalen amerikanischen Reporterin… und natürlich uns Leserinnen gleich mit.
Azzeddines Humor macht das Lesen zu einer rasanten Fahrt zur Hölle.

"Bilqiss" von Saphia Azzeddine ist im Verlag Wagenbach erschienen, übersetzt aus dem Französischen von Birgit Leib.

Sicher war ich nicht so bezaubernd wie Scheherazade, aber wir beide besaßen das, was für Frauen, die in der Falle sitzen, am kostbarsten ist: Sprachfertigkeit. Eine, die ausspricht, Ärger erregt, schwatzt, netzt, leckt, erzählt, schmeichelt, bettelt, übertreibt, beschönigt, zu weit geht und sich wieder zurücknimmt, erneut zu weit geht, ohne sich zurückzunehmen.
Offen gesagt wäre es mir lieber gewesen, die Macht der Männer zu haben und die Wörter nur stottern zu können, aber tausend Revolutionen später hatte sich die Ordnung immer noch nicht umgekehrt:
Eine Frau war intelligent, ein Mann war mächtig.