Erstellt am: 7. 12. 2016 - 11:22 Uhr
Blutspuren im Schnee
CHRISTIAN: Anfang dieses Jahres war ein Film in aller Munde, der unter sagenhaft extremen Drehbedingungen entstanden ist. Ich rede von Alejandro Gonzales Iñárritus‘ Rachewestern "The Revenant". Beim ersten Mal ansehen hat mich dieses schneeverwehte Epos schlicht umgeblasen, in seiner Mischung aus innovativer formaler Umsetzung und archaischem Inhalt. Bei der Zweitsichtung ist die Begeisterung meinerseits zwar einen (kalten Wind-) Hauch abgeflaut. Dennoch ein sehr bemerkenswertes Ding. Was sagt ihr rückblickend zu „The Revenant“?
CHRISTOPH: Ging mir sehr ähnlich. Beim ersten Schauen geht davon ja schon eine nahezu unbändige Kraft aus, die sich bei weiteren Malen leider nie mehr so in ihrer Gesamtheit von neuem wiedererleben lässt. Aber so lang die alten Wunden immer noch so wuchtig zu pochen vermögen, will ich mich da auch gar nicht groß beschweren.
CHRISTOPH PRENNER schaut sich immer wieder mal gern Sachen im Kino oder Fernsehen an, über die er sich dann in den schönsten Fällen in Periodika wie SKIP, Wiener oder Prime Time (R.I.P.) buchstäblich freut.
Centfox
Kutschenfahrten durch die weiße Hölle
CHRISTIAN: Lasst uns aber die Jahreszeit und die Stimmung von „The Revenant“ zum Anlass nehmen, um ein bisschen über eines der schönsten Subgenres zu plaudern. Nämlich Western, die überwiegend im Schnee spielen. Auch Quentin Tarantinos „The Hateful Eight“ kommt da als aktuellerer Film sofort in den Sinn.
SEBASTIAN SELIG lebt im Kino und schreibt darüber in so bunten Magazinen, wie Hard Sensations, NEGATIV und der DEADLINE.
SEBASTIAN: Oh ja, alles wird nochmal klarer, unwirscher, zugespitzt intensiver, wenn sich hier weiß, fest und kalt eine weite Schneedecke über die archaische Welt des Western zieht.
CHRISTIAN: Meine Faszination dafür begann ja schon im Kindesalter, mit diversen Jack-London-Verfilmungen. Ich fühlte mich danach bei Spaziergängen in der steirischen Winterlandschaft gerne wie ein kleiner Trapper-Bub irgendwo im kanadischen Niemandsland. Aber der echte Kick war in Jugendjahren, einen nihilistischen Klassiker des Italowesterns im Spätabend-TV zu erwischen. Die Rede ist von Sergio Corbuccis „Il Grande Silenzio“, bekannter unter dem malerischen Verleihtitel „Leichen pflastern seinen Weg“.
CHRISTOPH: Diese reibungsscharfe Kutschenfahrt über weiß knirschenden Untergrund aus „The Hateful Eight“: Corbucci hat sie erfunden – und die Sub-Gattung des winterfesten Westerns als auf Jahrzehnte hinaus gültige Referenzgröße generell geprägt wie keine zweite Arbeit.
1968, also zwei Jahre nach seinem „Django“, hatte es sich der Regisseur zum Ansinnen gemacht, für das unausweichliche Aufeinanderprallen eines großen Schweigers, gespielt vom französischen Melancholiker Jean-Louis Trintignant und eines geilen Spinners – der verrückte Klaus Kinski - den Staub mal eben durch Schnee zu ersetzen – mit wahrlich erfrischendem Ergebnis.
Studiocanal
Die Reiter der Apokalypse
CHRISTIAN: Existentialistischer ist der Italowestern selten gewesen als in diesem zeitlosen Meisterwerk.
CHRISTOPH: Oh ja. Nicht nur formell, also durch die elementare Schönheit eines in rot und weiß und noch mehr rot hingepinselten Showdowns, erwies sich Sergio Corbucci als radikaler Weiterdenker. Wahrhaftig frostig kam auch seine Schlusspointe daher, eine so lapidare wie bedrückende Zerlegung eingefahrener Erzählkonventionen des Genres.
CHRISTIAN: Bleiben wir doch noch ein bisschen in der Spaghettiwestern-Ära, schlage ich vor.
CHRISTOPH: Wer als italienischer Filmemacher in den Siebziger Jahren was auf sich zu halten wusste, hat sich auch irgendwann mal an das Königsgenre des Knarrenballetts gewagt. Keine Ausnahme dabei: Der Grandsignore in Sachen Gore und Giallo, the one and only Lucio Fulci.
CHRISTIAN: Einer der sträflich unterschätzten Regiegötter des Genrekinos, dem wir vor allem irrlichternden Geniestreiche des Zombiefilms wie „The Beyond“ verdanken.
CHRISTOPH: In „Four Of The Apocalypse“, auf Deutsch „Verdammt zu leben – verdammt zu sterben“, lässt er 1974 das titelspendende Vierergespann durch eine in elementare Zermürbung gebettete Welt reiten. Bis die Protagonisten dann im Schlussakt auf eine fatale Schicksalsgemeinschaft treffen, mit einem erratischen Schurken als Boss, gespielt von Tomas Milian mit Faible fürs Flamboyante. Dass sich dieser knietief im Nihilismus watende, mitunter auch psychedelisch an der Satteltasche zerrende Spät-Spaghetti-Western dann überdies in winterlichem österreichischen Gebirge abspielen darf, macht dieses Kleinod womöglich sogar noch eine Spur entdeckenswerter als ohnehin schon.
Menschenfresser in finsteren Tälern
CHRISTIAN: Verzichten wir doch bewusst auf eine zeitliche Chronologie, springen wir von der Italo-Western-Glanzphase in die Gegenwart und lasst uns einen der wunderbarsten österreichischen Filme der letzten Jahre feiern.
SEBASTIAN: Wie es klingt, nein, sich anfühlt, wenn schwere Stiefel im Schnee knirschen, ein Schuss krachend in den tiefverschneiten Wäldern zurückbellt, eisige Äste über einem im Wind knacken, spürt man in dieser sinnlich, vereinnahmenden Pracht ganz besonders schön in „Das finstere Tal“. Dort oben, zwischen den granitfarbenen Felswänden, im nächtlichen Fackelschein, im Schneenebel beim Holzhacken, auf alten knarrenden Holzdielen, entspinnt sich Drama mit atemberaubender Wucht, die einem gerade bei Minusgraden umso hitziger entgegenschlägt.
Da braucht es, Literaturverfilmung hin wie her, dann fast keiner Worte mehr. Breitet sich Geschichte ungesagt doch viel tiefer aus. Gräbt sich ein in die Gesichter, dieser bulligen, polternden Kerle, denen ein Fremder mit feinen, harten Zügen entgegensteht, das Unheil, welches sie wunderbaren Frauen angetan haben, nicht ungestraft lassend. Kino, ganz nah am Wesentlichen.
CHRISTIAN: Ganz ans Existentielle und Eingemachte geht es auch in einem frostigen Geheimtipp aus dem Jahr 1999. Die mittlerweile leider verstorbene britische Regisseurin Antonia Bird schuf mit "Ravenous" damals eine sarkastische Dekonstruktion des Westerngenres, in der die edlen Mythen der amerikanischen Gründerzeit mit Blut und Beuschel beschmiert werden.
Der Film lässt in der Zeit des mexikanisch-amerikanischen Kriegs zwei gegensätzliche Männer aufeinandertreffen. Guy Pearce spielt einen übersensiblen Captain, der in einem halbverlassenen Fort auf Robert Carlyle als einzigen Überlebenden eines Siedlertrecks trifft. Der Fremde entpuppt sich bald als schier übermenschlicher Killer, der sich vom Verzehr seiner Opfer animalische Kräfte verspricht. "Ravenous" diskutiert im winterlichen Setting Grundsatzfragen von Friedrich Nietzsche und de Sade, bietet nervenzehrendes und tragikomisches Gemetzel und einen Soundtrack, bei dem Damon Albarn involviert ist.
Filmladen
Schusswechsel im Niemandsland
CHRISTOPH: Weil wir mit unseren Schneewestern-Erinnerungen so unbefangen zwischen den Jahrzehnten herumspringen, kommt mir jetzt noch ein prachtvoller Film aus den 70ern in den Sinn. Darin zieht sich ein Mann aus dem Krieg ins natürliche Niemandsland der Rocky Mountains zurück und kann ihm dort trotzdem nicht für lange Zeit entkommen. Von all den Kollaborationen zwischen Sydney Pollack und seinem Lieblings-Leading-Man Robert Redford ist das sich versonnen in den klirrend pfeifenden Winterwind hängende Aussteiger-Abenteuer „Jeremiah Johnson“ die nachhaltigst zur tiefen emotionalen Zerrüttung befähigte. Schale Selbstfindungsroutinen haben hier Sendepause, an ihrer statt hagelt es rohes Leben, mit all der gebotenen knorrigen Konsequenz, die so ein Drehbuch von John „Conan“ Milius einem halt mit auf den Weg gibt. Schwermütige Western-Ballade und existenzialistische Unruhevermessung zu gleichen Teilen.
CHRISTIAN: Ich gestehe, den Film muss ich endlich mal nachholen, bislang noch nicht gesehen. Dafür sollten wir zum Ausklang unseres schneeverwehten Gesprächs näher auf Quentin Tarantinos letztes Werk eingehen, das dich ziemlich mitgerissen hat, Sebastian.
SEBASTIAN: Ja, schon eines der Anfangsbilder, dieser ans Kreuz genagelte Jesus, der schnee- und eisverkrustet die Arme ausstreckt, zog mich in „The Hateful Eight“ rein. Stumm und ein wenig vorwurfvoll blickt er auf eine ächzend durch das Weiß kämpfende Kutsche hinab. Darin Kurt Russell, so raubeinig, wie es nur eben geht, der schlossweiße Bart noch von der staubtrockenen Glut in „Bone Tomahawk“ pittoresk ausgebleicht. An seiner Seite mit unbeugsam hitzigem Blick Jennifer Jason Leigh. Das Wetter und die widrigen Umstände wollen es so, dass man in einer gewalttätig aufgeladenen Hütte landet. Draußen heult ein Schneesturm, drinnen belauert man sich wortreich vor dem knisternden Kamin, wohl wissend, dass die finstere Nacht da draußen nichts ist, im Vergleich zu dem, was man hier schon lange in sich selbst tief drin spürt.
Constantin Film
CHRISTIAN: Ich fand es ja schade, dass sich der Film zum Kammerspiel auf engstem Raum wandelt, denn die anfängliche Stimmung ist schon großartig.
SEBASTIAN: Ja, aber der Schneesturm draußen vor der Hütte bringt ganz viel Bitternis auf engem Raum zusammen, auf dass Gewalt unfassbar brutal Löcher in alles reißen kann. Spätestens wenn dann ganz zuletzt Roy Orbisons großer, melancholischer Hippie-Song „There won’t be many coming home“ sich über alles legt, wird klar, was für einen wütenden, traurigen Film Tarantino hier über das Amerika der Gegenwart rausgewuchtet hat. Wie bitter und politisch er das alles meint. Ganz kalt verdichtet.
CHRISTIAN: Ich danke euch für dieses Gespräch vor dem wärmenden virtuellen Kamin!