Erstellt am: 2. 12. 2016 - 18:31 Uhr
Der progressive Pakt
Ich hab übers Wochenende irgendwo gelesen, Theresa May habe schlaflose Nächte wegen Brexit. Ich kann sie trösten, sie ist nicht die einzige.
Woanders wieder war zu lesen, Theresa habe gesagt, sie ließe sich in Sachen Brexit von Gott und ihrem Glauben leiten.
Das sollte einem eigentlich genauso viel Angst machen, als wenn zum Beispiel Sadiq Khan dasselbe zu sagen hätte.
Was er natürlich nicht tut.
Aber man stelle sich vor, was geschähe, wenn er täte.
Aber zurück zum Problem Schlaflosigkeit, deren viele Gründe sich zwischen mittlerer Nacht und frühem Morgen immer mehr in einander verstricken, bis es gar keine Aussicht mehr auf eine Lichtung gibt, wo man einmal Ruhe zum Schlummern fände.
Das einzige, was in so einem Fall hilft, Theresa, ist, sich alles eins nach dem anderen, Thema um Thema vor Augen zu führen, abzuhandeln und zu hoffen, dass man damit fertig ist, bevor wieder der Wecker läutet.
Und da kommen wir beide schon gleich nicht mehr zusammen, Theresa und ich, ab da müssen wir getrennt mit unserem Problem fertig werden.
Wenn zum Beispiel am Montag herauskam, dass Kate Bush Theresa für „wundervoll“, „sehr vernünftig“ und „das Beste“ hält, „was uns seit langem passiert ist“, dann tröstete das vielleicht Theresa, mir dagegen gab es bloß noch mehr Grübelstoff für die grauen Stunden.
Dann sag ich mir zwar vor, dass ich mich nicht groß zu wundern brauche, wenn diese Bewohnerin von Kent genauso denkt wie die meisten anderen, die in meinem Home County irgendwo hinter einer der dichten grünen Hecken residieren. Jene netten Leute, die mir im Country Pub mein Ale abpumpen oder mit ihren gut erzogenen Hunden an der Bar stehen und dann im Privaten so wie Kate Bush vorm Fernseher sitzen und sich bei einer warmen Tasse Tee ansehen, wie sich von den USA über Frankreich bis nach Österreich der rechte Rand auf Brexit beruft. Oder wie Theresa May, die von Gott spricht, als Innenministerin Kinder illegaler Einwander_innen mit Entzug der Schulbildung strafen wollte.
"Das beste, was uns seit langem passiert ist" eben.
Hier ist, falls ihr es noch nicht gelesen habt, das ganze Kate-Bush-Zitat:
“We have a female prime minister here in the UK. I actually really like her and think she’s wonderful. I think it’s the best thing that’s happened to us in a long time. She’s a very intelligent woman but I don’t see much to fear. I will say it is great to have a woman in charge of the country. She’s very sensible and I think that’s a good thing at this point in time.”
Wie neulich jemand in einer meiner Timeline-Blasen treffend schrieb: „Natürlich siehst du nicht viel zu befürchten, Kate, du bist ja auch keine Einwanderin.“
Meinesgleichen geht dieses Argument nahe, nicht weil ich von Kate Bush enttäuscht wäre, das ist momentan die geringste Sorge, sondern zumal meine unsichere Lage in diesem Land gerade wieder unversehens in den Brennpunkt der Post-Brexit-Taktiererei gerückt ist.
Dem hiesigen Spin zufolge hat Theresa May nämlich versucht, schon vor Beginn der EU-Austrittsverhandlungen einen gegenseitigen Deal zum Schutz des Status von EU-Bürger_innen in Brexitannien und Briten in der EU zu erreichen. Und die herzlose Angela Merkel habe das blockiert. Da frage ich mich dann, wie Merkel dafür garantieren hätte können, was Spanien oder Frankreich mit ihrer Population britischer Rentner_innen anfangen werden.
The Guardian
Aber dem britischen politischen Diskurs zuzuhören, ist derzeit sowieso ein derartig lückenloses Experiment in der praktischen Umsetzung der Parallelweltentheorie, dass einen gar nichts mehr wundern darf.
Zum Beispiel wenn gestern der konservative Abgeordnete Peter Bone auf Berichte, wonach Großbritannien künftig den Zugang zum Binnenmarkt bezahlen werden müsse, allen Ernstes entgegnete, eher werde die EU für einen Zugang zum britischen Markt bezahlen.
Solcher chauvinistischer Fieberwahn wird dann als ernsthafte Äußerung in den BBC-Stundennachrichten weitergegeben. Und dann reden sie von fakebook.
Allerdings, es gibt Hoffnungsschimmer im (Morgen)Grauen.
Gestern zum Beispiel fanden in Richmond By-elections statt.
Ein teurer Vorort von London, in den es mich aus hier nicht nennenswerten Gründen dieser Tage jeden Sonntag verschlägt. Da wohnen entspannte reiche Leute, von Geschäftsleuten mit Familie, die im Sommer in Rugby-Hemden wie aus dem Freizeitkatalog herumlaufen, bis zu – oben auf dem Hügel, der auf die hier sanft mäandernde Themse runter schaut – alten Rockstars wie Mick Jagger und Pete Townshend.
Eine Blase des Wohlstands also, deren größte Sorge im Leben bisher war, dass ihr Idyll mitten unter der Einflugschneise von Heathrow liegt. Zu fast jeder Tageszeit kann man von der malerischen Promenade am Flussufer aus beim Aufschauen die Schrauben an den zum Greifen nahen Bäuchen der dicken Boeings und Airbusse zählen.
Der örtliche Parlamentarier hier war bis gestern genau jener Zac Goldsmith, der diesen Frühling seinen ehemaligen Ruf als moderner grüner Tory demolierte, indem er gegen Sadiq Khan einen erfolglosen, rassistisch gefärbten Wahlkampf um den Bürgermeisterposten führte.
Als nun vor kurzem die konservative Regierung beschloss, in Heathrow eine dritte Landebahn zu bauen, tat Goldsmith wie im letzten Wahlkampf versprochen, trat aus der Partei aus und stellte sich als unabhängiger Kandidat einer Neuwahl zu seinem Parlamentssitz in Richmond.
Die Konservativen verzichteten bezeichnend vorsichtig darauf, jemand gegen ihn aufzustellen, die örtliche UKIP wiederum stellte sich hinter ihn.
Für Labour kandidierte der chancenlose Eisenbahn-Historiker Christian Wolmar, während die Liberaldemokraten mit Sarah Olney eine unbekannte Neueinsteigerin ins Rennen schickten.
Sie konzentrierte ihren ganzen Wahlkampf auf den Protest gegen den von der Hardliner-Partie rund um Theresa May angesteuerten harten Brexit und schaffte es damit, Zac Goldsmith, der bei den Unterhauswahlen 2015 in Richmond noch 23.000 Stimmen Vorsprung hatte, in der gestrigen By-Election mit einer Mehrheit von 1.800 Stimmen abzuhängen.
Die gut betuchten Leute von Richmond, die beim EU-Referendum zu 68% „Remain“ gewählt hatten, fürchten also Brexitanniens Isolation noch mehr als den Fluglärm.
Wie das konservative Kommentariat uns nun erklärt, habe dieses Ergebnis rein gar nichts mit der Gesamtstimmung im Land zu tun.
Aber das erinnert ironischerweise ein bisschen an die Realitätsverweigerung der Labour Party der Ära Blair/Brown.
So wie damals Labour seine Kernschichten verstörte, indem man sich dem neoliberalen Konsens des hiesigen politischen Zentrums an die Brust warf, drohen die Tories in ihrem Flirt mit dem bigotten Neo-Nationalismus ihre Verbindung zu ihrer natürlichen Klientel in der oberen Middle Class zu verlieren.
Sitze, die Theresa für gesichert hielt, sind ab sofort eine mögliche Beute für die vor dem EU-Referendum noch totgesagten Libdems.
Ich glaube, Kate Bush ist in diesem Fall ein bisschen hinter der Kurve.
Noch mehr Hoffnung macht mir aber, dass in Richmond de facto eine progressiv-liberale Koalition den Brexiteer Goldsmith mit vereinten Kräften aus dem Sessel kippte.
Labour-Kandidat Wolmar, der insgesamt nur 1.500 Stimmen erreichte, beschwerte sich nach der Wahl, dass Olney sich von Labour Stimmen geborgt hätte. Aber ich bin alt genug mich zu erinnern, dass Labour sich 1997 auf genau diese Weise, nämlich mit von den Libdems zwecks Entmachtung John Majors geborgten Stimmen, seinen Erdrutschsieg holte.
Neben gekränkten Gemütern wie Wolmar gibt es bei Labour allerdings auch wache Geister wie Clive Lewis, den MP von Norwich South. Er eroberte sich 2015 seinen eigenen Parlamentssitz von den Libdems, verfügt aber über die nötige Weitsicht, angesichts des rechtspopulistischen Bündnisses rund um Brexit einen progressiven Pakt mit seinen liberaldemokratischen Widersacher_innen anzustreben.
„The playbook is changing and we’ve got to change with it“, sagt er.
Das kleine Beispiel Richmond zeigt zumindest eindrucksvoll, dass der rechte Populismus auch dieser Tage kein Monopol auf Wahlsiege hat. Das hat mit einem Schlag den Ton der britischen Debatte verändert. Niemand kann nun mehr so tun, als stünde Brexit für die Volksmeinung schlecht hin. Die Daily Mail mag sich leisten können, die Snobs von Londons Themsenoberlauf einfach als weltfremde Elite abzutun, die Tories, deren Parlamentsmehrheit gerade von 12 auf 10 Stimmen gesunken ist, aber nicht.
Wenn mich nicht alles täuscht, steht in Österreich demnächst ja auch so ein Test einer fortschrittlichen Zweck-Koalition an.
Was mich übrigens wieder zu einem Hauptthema im Soundtrack meiner Schlaflosigkeit bringt.
Aber wenigstens hatte ich die Möglichkeit, da selbst mitzustimmen. Wie viel so ein Stimmrecht wert ist, lernt man erst, wenn man es einmal vermisst hat - so wie ich beim EU-Referendum und den Unterhauswahlen der letzten 20 Jahre.
In meiner Geburtsheimat hab ich also jedenfalls meinen Teil getan. Nur sind diesmal, so lese ich, angeblich um 20 Prozent weniger Wahlkarten eingelangt.
Ihr, die ihr in Österreich seid, werdet mir daher am Sonntag helfen müssen, meinen Schlaf wiederzufinden. Bin sonst immer den ganzen Tag grantig, und das bringt wirklich niemand was.