Erstellt am: 30. 11. 2016 - 17:33 Uhr
Die Mädchen aus den Wäldern
Es gibt Nachrichtenzeilen, die einen verfolgen. Die einem immer wieder einfallen und trotzdem in komplettem Unwissen zurücklassen. Wie jene der 276 nigerianischen Schulmädchen, die aus ihrem Internat entführt worden sind. Auch Michelle Obama twitterte #bringbackourgirls.
Die Täter gehören Boko Haram an. Das heißt soviel wie "Westliche Bildung verboten" und diese Bezeichnung kommt aus dem Westen. Das weiß Wolfgang Bauer und er hat weit mehr herausgefunden über die Terrorsekte Boko Haram. Eine Zeitlang hatten sie in Nigeria ein Territorium kontrolliert, das fast so groß gewesen ist wie Österreich. Mit Millionen an EinwohnerInnen. Im Moment sind sie in den Busch zurückgedrängt worden, wo sie aber noch erheblich über Territorium verfügen und viele Leute im Schatten der Angst von Boko Haram stehen.
Suhrkamp Verlag Berlin
In Österreich sitzt Wolfgang Bauer am Tag nach der US-Präsidentschaftswahl- Nacht jungen Journalismusstudierenden der FH Joanneum gegenüber und lässt sich zu seiner Arbeitsweise befragen. Danach hat er Zeit für ein Interview, bevor er weiterreist. Wohin diesmal, das dürfe er noch nicht sagen.
Seit Jahren ist der deutsche Journalist weltweit für seine Arbeit unterwegs. Immer wieder reist er nach Nigeria. Dort hat er zum Beispiel Eltern besucht, die ihre eigenen Kinder töten, weil sie glauben, diese wären vom Teufel besessen. Die Geschichten, die Wolfgang Bauer erzählt, sind oft markerschütternd und doch vor allem Augen öffnend für die Welt.
Im Vorjahr und dieses Jahr ist Bauer wieder in Nigeria gewesen. Jetzt sagt er: Uns hier in Europa geht Nigeria etwas an. Wieso denn das?
Wolfgang Bauer: Weil Nigeria der wichtigste Staat in Afrika ist. Wenn Nigeria fällt, fällt Afrika. Und wenn Afrika fällt, reißt es Europa in Teilen mit. Die Welt ist kleiner geworden durch die moderne Technologie. Nichts ist mehr weit weg. Es gibt keine Innen- und Außenpolitik mehr, alles ist irgendwie zur Innenpolitik geworden. Wenn wir Probleme ignorieren, die scheinbar weit weg sind, schlägt das doppelt hart wieder auf uns zurück. Das haben wir hoffentlich durch Syrien gelernt. Es ist in unserem ureigensten Interesse, dass sich die Krise in Nigeria nicht zu einer dauerhaften ausweitet.
Dein neues Buch ist „Die geraubten Mädchen“ und es geht darin um die Terrormiliz Boko Haram. Du hast recherchiert: Es sind tausende Frauen und Mädchen, die entführt und vergewaltigt wurden und werden.
Ja, das ist eine Generationserfahrung, die die Menschen im Nordosten Nigerias machen. Es betrifft eine ganze Region. Man kann davon sprechen, dass die Sklaverei durch diese islamistische Bewegung Boko Haram in manchen Teilen wieder eingeführt worden ist. Die Sklaverei, die es dort überall bis vor achtzig Jahren traditionell gegeben hatte. Boko Haram plündert, raubt Dörfer aus, tötet die jüngeren Männer, sofern sie sich ihnen nicht anschließen wollen, und kidnappt die Frauen, damit sie verheiratet werden und neue Kinder im Geiste ihrer Bewegung dann aufwachsen. Sie machen eine Art „terraforming“: Sie versuchen, eine neue Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen. Das gelingt ihnen am meisten dort, wo sie über einen längeren Zeitraum ihre Strukturen ausbilden können.
Du hast Gespräche mit sechzig Frauen und Mädchen geführt, die entführt worden sind, die sexualisierte Gewalt durch Mitglieder von Boko Haram erlebt haben. Wie waren diese Begegnungen?
Es hat mich am meisten beeindruckt, wie viel Lebensmut und Lebenswille in diesen Frauen immer noch drinsteckt. Wenn man sich vorstellt, welche Grausamkeiten sie erlebt haben: Permanente Vergewaltigungen, Kinder bekommen haben von ihren Peinigern, das Kopf-Abschlagen von Verurteilten mit ansehen haben müssen; sich selber vielleicht auch schuldig gemacht haben, weil sie den einen oder anderen unter Druck und aus Angst denunziert haben, der dann getötet worden ist.
Wir konnten leider nicht in die Dörfer reisen, in die sie nach ihrer Befreiung zurückgekehrt waren, weil die immer noch im Einflussgebiet von Boko Haram sind. Die sind immer noch im Busch und nachts kommen sie in die Dörfer zurück. Deswegen hatten wir die Frauen gebeten, nach Yola zu fahren, wo es für uns beide sicher genug war, uns zu begegnen. Das jüngste Mädchen ist drei und mit seiner Mutter entführt worden, die älteste Frau ist um die Sechzig. Wir haben uns erst mal einen Tag nur über ihre Kindheit, also über das normale Leben am Dorf unterhalten.
Andy Spyra
Hier kannst du einen Auszug aus „Die geraubten Mädchen“ lesen
Es gibt in deinem Buch „Die geraubten Mädchen“ sehr grausame, das Herz zusammenquetschende Stellen. Die Frauen kommen selbst zu Wort. Sie sprechen über die Zustände in den Wäldern, in die sie verschleppt worden sind. Was hast du über Boko Haram erfahren? Wie stellt sich diese fundamentalistische, islamistische Sekte dar? Was wollen die?
Als Reporter kann man nicht direkt mit Mitgliedern dieser Sekte reden. Man kann sie nur aus den Berichten ihrer Opfer skizzieren. Boko Haram versucht schon, den sogenannten Islamischen Staat zu kopieren. Sie haben sich ihm offiziell angeschlossen. Zeitweise haben sie auch versucht, staatliche Strukturen auszuprägen: es wurden Minister ernannt, Verwaltungskomitees eingeführt, sie haben die Medikamentenvergabe in ihre Hand genommen, Steuern von Geschäftsleuten eingezogen, die gezwungen wurden, ihre Läden offen zu halten. Sie haben versucht, die Scharia einzuführen, in ihrer Auslegung gemünzt. Ihr Bestreben ist, sich dem globalen Kalifat des Islamischen Staates anzuschließen.
Im Kern aber, wenn man genau hinguckt, handelt es sich bei Boko Haram aber auch um die Bewegung eines Stammes, der Kanuris, die früher ein mächtiges Reich besessen hatten, das sich von Südlibyen bis in den Kamerun erstreckte und das von den Kolonialmächten zerschlagen wurde. Das Reich war als Sklavenhalterreich berüchtigt, schon damals. Viele Kanuris erhoffen sich in Gestalt von Boko Haram eine Rückkehr zu altem Glanz und Gloria. Die Religion ist oft nur vorgegeben, im Inneren stecken tiefere Identitätsmerkmale.
Du hast bei deinen Recherchen bemerkt, dass es keine NGO gibt, die sich um diese Mädchen und Frauen kümmert. Deine Kolleginnen bei Die Zeit und du, ihr habt eine Hilfsorganisation gestartet.
Ja, wir sind über die Grenze zwischen Journalist und Helfer gegangen. Weil die Reaktionen auf die Reportage, die dem Buch vorangegangen ist, massiv waren. Die einstmals entführten Frauen, die wir kennengelernt haben, lassen sich bei offiziellen Stellen nicht registrieren. Sie haben Angst vor möglichen Repressalien. Sie kehren in ihre Dörfer zurück oder in Flüchtlingslager und tun nicht groß kund, dass sie einst unter Zwang bei Boko Haram gewesen sind, weil sie sonst ausgestoßen werden.
Es gibt NGOs, die sich um Opfer von Boko Haram und um den Wiederaufbau dieser Gegend kümmern. Aber es gibt leider keine NGO, die sich um die Opfer kümmert, die am heftigsten um unter Boko Haram litten: die entführten Frauen und Mädchen. Sonst hätten wir bevorzugt, unsere Spendenaktion über diese Organisation laufen lassen. Wir mussten ein bisschen eigene Strukturen aufbauen, das tun wir in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche in Jola und mit Repräsentanten der muslimischen Gemeinde, die Kontakte in die entsprechenden Gegenden haben.
Bislang konnten wir 70.000 Euro sammeln, die jetzt mehr als 80 Frauen im Lauf der nächsten drei Jahre zugute kommen. Geld verwandelt sich für die Leute dort schnell zu Gift. Die Menschen haben normalerweise kein Bargeld bei sich in der Hütte. Wenn sie es haben, werden sie rasch überfallen. Wir wollen mit unserer Hilfe nicht neue Entführungsfälle provozieren. Wir haben lange Zeit gebraucht, um ein filigranes System zu entwickeln, wie man den Frauen Unterstützung zukommen lassen kann und sie andererseits aber vor negativen Folgen schützt.
Andy Spyra
Du bist mit den Frauen nach wie vor in Kontakt. Was macht denn das offizielle Nigeria gegen Boko Haram? Gibt es irgendwelche Möglichkeiten, wieder Herr der Lage zu werden?
Militärisch ist man ein Stück weit Herr der Lage geworden in den wichtigsten asphaltierten Straßen und in den wichtigsten Ortschaften. Zumindest tagsüber. Das ist dem nigerianischen Militär aber erst gelungen, nachdem sich die Militärs aller Nachbarstaaten zusammengetan hatten – Tschad, Kamerun usw. Jetzt ist es ein Katz-und-Maus-Spielen im Busch. Das Militär wagt sich nicht so gern in den Busch, weil es keine Straßen gibt und sie ihr schweres Material dorthin nicht bewegen können.
Man wird Boko Haram auf Dauer nicht ausschalten können, wenn die Gründe für die Existenz von Boko Haram nicht beseitigt werden. Einer der Hauptgründe ist die grassierende Korruption in Nigeria. Die Willkür der staatlichen Behörden. Der Staat tritt im unterentwickelten, muslimisch dominierten Nordosten überwiegend als Raubtier auf. Der hilft dir nicht, sondern der nimmt dir nur weg. Etwa in Form von Polizeistreifen auf der Straße, die nicht deine Sicherheit gewährleisten, sondern dir das Geld abnehmen. Und wenn du dich weigerst zu zahlen, werfen sie dich ins Gefängnis und prügeln dich. Aufgrund dieser Willkürherrschaft ist es überhaupt dazu gekommen, dass islamistische Sekten wie Boko Haram sich in diesem Gebiet bilden konnten. Wenn diese Ungerechtigkeit nicht in den Griff bekommen wird, dann wird es die nächste Organisation geben, die dann einen anderen Namen hat. Aber diese Ungerechtigkeit sorgt für Geschwüre. Das ist eine offene Wunde, die vor sich hin eitert. Boko Haram lässt sich militärisch nicht alleine in den Griff kriegen.
Zur Krise:
Nigeria gilt als eines der bevölkerungsreichsten Länder Afrikas. 2,6 Millionen Menschen hat Boko Haram aus ihren Dörfern vertrieben, berichtet der Guardian: "The small African region with more refugees than all of Europe"
Was wäre gefragt?
Das ist in erster Linie eine Frage, die man an die nigerianische Gesellschaft stellen muss. Nicht nur an die Politik, denn die Korruption ist so tief verankert. Was wir machen können, ist sicherlich teilweise militärisch zu helfen, ohne gleichzeitig das nigerianische Militär zu sehr zu unterstützen, weil viele verkaufen das Zeug gleich wieder an Boko Haram bzw. wenden Waffen bei Menschenrechtsverletzungen an anderer Stelle in Nigeria an.
Es gibt natürlich andere Möglichkeiten, wie sicherheitstechnisch gegen Boko Haram vorgegangen werden kann. Hilfszusagen an Nigeria müssten massiver an die Antikorruptionskampagne gebunden werden. Es muss auch mehr Druck ausgeübt werden. Es muss im Nordosten Nigerias wirtschaftlich viel mehr passieren. Aber da sehe ich momentan kaum eine NGO, kaum eine Initiative, die da hineingeht – aus Angst vor Boko Haram und vor der Unsicherheit.
Da müssen wir uns aber auch robuster aufstellen, was unsere Hilfslandschaft angeht. Weil das ist kein Hobby. Das ist kein Wohlfühlluxus, in dieser Region zu helfen. Denn wenn diese Region außer Kontrolle gerät, merken wir das auch sehr rasch auch hier in Österreich. Vielleicht nicht übermorgen, vielleicht nicht nächste Woche, aber hundertprozentig wird es Auswirkungen auf Zentraleuropa haben, wenn Anarchie, Chaos und Verzweiflung in dieser Region regieren. Afrika ist unser Nachbar. So weit weg ist es nicht.
Andy Spyra
Auch aus dem Krieg in Syrien berichtete Wolfgang Bauer. Und versuchte dann, mit einem syrischen Freund über das Meer nach Europa zu fliehen. Daraus entstand das Buch "Über das Meer".
Die USA haben einen neuen Präsidenten. Jetzt bist du in sehr vielen Ländern der Welt unterwegs und unterwegs gewesen. Wie ist denn deine Prognose?
Mir selber ist noch sehr schwindelig. Die Auswirkungen sind noch nicht erahnbar. Allein die Ankündigung von Trump, aus der NATO auszusteigen, hat so viele Konsequenzen. Dann müssten wir die Verteidigungsbudgets massiv aufstocken. Wir müssten massiv in anderen Bereichen sparen – in welchen Bereichen? Im sozialen Bereich? Im Kulturbereich? Im Gesundheitsbereich? Da fehlt mir noch sehr die Fantasie dafür. Ich befürchte, dass es auch die Leute, die im Umgang mit einer liberalen Demokratie in Europa so ihre Probleme haben, dadurch Rückenwind bekommen könnten.
Ich befürchte, dass alle Menschenrechtsverletzungen, die so in allen möglichen Staaten aller Erde passieren, geduldet werden, weil Mister Trump auch mit Herrn Putin zusammengehen will. Ich befürchte, dass, wenn Trump tatsächlich die Dinge umsetzt, die er gerade, was Muslime angeht, angekündigt hat, diese Akte eine ganz neue Ära des Terrorismus hervorrufen könnte. Weil wo es eine Aktion gibt, gibt es auch eine Reaktion. Und dieser Trump wird in kurzer Zeit, wenn er tatsächlich diese Dinge umsetzt, in der muslimischen Welt verhasst sein und auch Leute, die bislang moderater waren, werden es schwieriger haben, ihre Position innerhalb der eigenen Community und vor sich selber rechtzufertigen.
Es kommt jetzt ganz darauf an, was er macht.
Besorgniserregend ist, dass er durchregieren kann und die Mehrheit in beiden Häusern hat. Ich war im September für drei Wochen in den USA, um Porträts für Die Zeit zu machen. Die nächsten Monate werden eine sehr spannende Zeit werden. Für uns alle.