Erstellt am: 25. 11. 2016 - 14:31 Uhr
Hillary is winning!
Jill Stein, die Kandidatin der Grünen in den USA, hat am Freitag einen Nachzählung der Stimmen im Bundesstaat Wisconsin beantragt. IT-Experten meinen Unregelmäßigkeiten bei der Zählung der elektronisch abgegebenen Stimmen festgestellt zu haben.
46 Millionen Truthähne werden an diesem langen Thanksgiving-Wochenende durch die Hälse der Amerikaner gewürgt werden. Mickrige 2 hat der noch amtierenden US-Präsidenten Barack Obama am Mittwoch begnadigt – eine nicht ganz von Zynismus befreite Tradition, die auf Präsident Lincoln zurückgeht. Immerhin können vegane Amerikaner zwischen verschiedenen Tofu-Varianten wählen, wenn's denn von der Form her unbedingt ein Vogel sein muss.
In den USA ist Thanksgiving das wichtigste Familienfest und wird genau deswegen gefürchtet. Obwohl viele Beobachter in der Nachbetrachtung der Präsidentschaftswahlen so tun, als sei der Konflikt zwischen Stadt und Land etwas völlig neues, ist der Culture Clash beim Thanksgiving-Dinner fester Bestandteil der amerikanischen Entertainment-Kultur. Die Plots von Serien, Filmen und Comedy-Acts verlaufen dabei immer nach dem selben Muster. Der kosmopolitische Nachwuchs kommt aus der Großstadt zu Besuch aufs Land und trifft dort auf die politische Einfalt der verwandten Hillbillies und Rednecks. Es kracht. Am Ende haben sich alle wieder lieb und feiern das große amerikanische Alleinstellungsmerkmal unter den Feiertagen.
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In diesem Jahr wird bei den Thanksgiving-Zusammenkünften zwischen Truthahnkeule, Pumpkin Pie und NFL-Spielen die Zahl 2 Millionen für hitzige Diskussionen an der Familientafel sorgen. Sie reflektiert den aktuellen Vorsprung von Hillary Clinton vor Donald Trump bei der Anzahl der Stimmen. Was, da wird noch ausgezählt? Und wie kann Clinton vorne liegen, wenn Trump gewonnen hat? Alles gute Fragen. Die Antworten liegen im Wahlsystem der USA begründet.
So funktioniert das US-Wahlsystem
Dort erfolgt die Bestimmung des Präsidenten nicht direkt durch die Wähler (Popular Vote), sondern durch das repräsentative System der Wahlleute (Electoral College). Diese Wahlleute sind eine Art Avatar mit Stimmrecht. Jeder Bundesstaat erhält eine Anzahl von Wahlleuten, die am Ende den Präsidenten ins Amt hieven. Wie viele Wahlleute ein einzelner Bundesstaat bekommt, hängt von der Anzahl seiner Mitglieder im amerikanischen Parlament, dem US-Congress ab. Die Anzahl der Vertreter im Kongress resultiert wiederum aus der Größe der Bevölkerung der einzelnen Bundesstaaten. Kalifornien ist der bevölkerungsreichste State mit den meisten Wahlbezirken. Er verfügt über 55 Wahlleute. Alaska oder North Dakota erhalten hingegen bloß 3. Das erscheint wenig, ist im Verhältnis zur Bevölkerung aber überproportional viel. Dafür garantieren die 2 Extra-Wahlleute, die aus den 2 Senatoren resultieren, die jedem Bundesstaat automatisch zustehen.
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Bundesweit gibt es 538 Wahlleute zu vergeben. Unter den derzeitigen Bedingungen benötigt ein Kandidat 270 dieser Elektoren, um ins Weiße Haus einzuziehen. Das System der Wahlleute mag etwas schrullig anmuten, das Problem ist aber weniger die Form, sondern die Art seiner Anwendung. Bei den Präsidentschaftswahlen gilt nämlich das „Winner take all“-Prinzip. Das heißt, die Wahlleute wandern nicht im Verhältnis der abgegebenen Stimmen an die Kandidaten, sondern der Gewinner kassiert alle Wahlleute eines gewonnenen Bundesstaates (mit Ausnahme von Nebraska und Maine, dort können die Elektoren aufgeteilt werden). Das System der Wahlleute ist also eine exzessive Variante des Mehrheitswahlrechts.
Donald Trump hat bei der Wahl am 8. November 306 Wahlleute eingesackt, Hillary Clinton 232. Das sieht nach einem Erdrutschsieg aus. Nimmt man aber das Verhältnis der bundesweit abgegebenen Stimmen, liegt Clinton beim derzeitigen Auszählungsstand um 2 Millionen Stimmen vor Trump (wie bereits weiter oben erwähnt). Das sind 1,7% der Wählerstimmen und das ist nicht wenig. Es gibt Kandidaten, die mit geringeren Abständen eine Wahl gewonnen haben (Kennedy 1960). Und dann gibt es jene, denen es so erging wie Hillary Clinton (Al Gore gegen George W. Bush im Jahr 2000. Auch er lag am Ende im Popular Vote voran). In den letzten 5 Wahlen ging die Mehrheit der abgegebenen Stimmen 2 Mal an den Verlierer.
Es ist noch nicht vorbei
Aber warum wird noch ausgezählt, wenn die Wahl längst geschlagen ist? Ist sie eben nicht. Die Wahlleute delegieren erst am 19. Dezember in einem weiteren Wahldurchgang die Stimmen ihrer Bundesstaaten. In der Regel halten sie sich brav an das Wahlergebnis. Man kann sie sich also als Postbeamte vorstellen, die das Ergebnis ihres jeweiligen States zustellen. Dieses Ergebnis wird dann am 6. Januar durch den regierenden Vizepräsidenten bestätigt. Erst dann steht offiziell fest, welcher Kandidat bei der Inaugurationszeremonie am 20. Januar auf die Verfasssung eingeschworen wird.
Warum Trump bereits jetzt als Sieger gehandelt wird, hat mit dem Vorsprung bei den Wahlleuten zu tun, den er bereits jetzt erreicht hat. Clinton kann ihn unter den gegebenen Umständen nicht mehr einholen. Anders: Egal ob sie in einem ihr wohlgesonnenen Bundesstaat ("Safe State") wie etwa Kalifornien, wo die Auszählung der Briefwahl noch läuft, noch mehr Stimmen bekommmt, als sie ohnehin schon erhalten hat, oder ob Michigan, wo der Abstand noch immer zu knapp ist, um einen Sieger zu verkünden, mit seinen 16 Wahlleuten an Clinton fällt, das Rennen um das Electoral College ist vermutlich entschieden.
Bloß vermutlich deshalb, weil natürlich auch diese Wahl angefochten werden kann. Genau das raten derzeit einige Experten dem Team Clinton. Angeblich haben die Computerfachleute der University of Michigan Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der elekronisch abgegebenen Stimmen festgestellt und zwar in Wisconsin (10 Wahlleute), Pennsylvania (20 Wahlleute) und Michigan (16 Wahlleute). In diesen States hatte Trump bloß einen hauchdünnen Vorsprung. Zusammengerechnet könnten sie am Ende Hillary Clinton doch noch nach vorne bringen. Dann würde es für sie in Wahlleuten gerechnet 278:260 stehen. Erst gestern hatte Jill Stein, die Kandidatin der Grünen, angekündigt, über genug Spendengelder für die Anfechtung der Wahl in Pennsylvania und Wisconsin zu verfügen.
Abtrünnige Wahlleute
Ungemach könnte dem „President-elect“ aber, wie weiter oben bereits angedeutet, auch von „faithless“ (treulosen) Wahlleuten drohen. Die Elektoren sind nämlich nicht an den Wahlauftrag ihres Bundesstaates gebunden, sondern laut Verfassung einzig ihrem Gewissen verpflichtet, einen Kandidaten zu küren, der auch tatsächlich für das höchste Amt im Staate geeignet ist. Die Elektoren können theoretisch also frei entscheiden (theoretisch deshalb, weil einige Bundesstaaten sehr wohl Sanktionen gegen die Treulosen vorgesehen haben, falls sie sich nicht an ihr Mandat halten). Würden also mindestens 37 Wahlleute, die eigentlich für Trump stimmen müssten, nicht bereit sein das zu tun, wäre das Repräsentantenhaus an der Reihe, einen der drei stimmstärksten Kandidaten des Popular Vote zum neuen Präsidenten zu wählen. Tatsächlich versuchen derzeit mehrere Initativen, bestehend aus Wahlmännern- und frauen der Demokraten, ihre KollegInnen von den Republikanern umzustimmen. Da die Elektoren zum Großteil von den Parteien selbst bestimmt werden, sind die Aussichten auf Erfolg jedoch ebenso gering, wie sie es bereits in der Vergangenheit waren. Es gab zwar immer wieder Abtrünnige, aber deren Wahlverhalten führte nie zur „Abwahl“ eines gewählten Kandidaten.
Dabei hatte die Installation der Wahlfreiheit des Electoral College auch den historischen Hintergrund, die Demokratie vor Kandidaten mit antidemokratischen Ambitionen zu schützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einige Initativen aus den Reihen der demokratischen Wahlleute nicht auf die Abwahl Trumps, oder die Wahl Clintons abzielen, sondern auf die Reform des Wahlsystems an sich. Mit der Rebellion der Wahlleute sollte die Absurdität des Kollegiums demonstriert werden.
Sklaverei und Wahlsystem
Es ist nämlich kein Geheimnis, dass das US-Wahlsystem bei Politikern, Experten und Wählern gleichermaßen unbeliebt ist. Gut 2/3 der Amerikaner halten es für fehleranfällig und veraltet.Tatsächlich erweisen sich die Schrulligkeiten des aus der Zeit der Founding Fathers stammenden Wahlleute-Prinzips zunehmend als toxisch für den demokratischen Prozess des Landes. Dieser Meinung war bis zu seiner eigenen Wahl übrigens auch Donald Trump. Beim Urnengang 2012 bezeichnete er das Wahlleuterkollegium als „Desaster für die Demokratie“ (Mitt Romney, der Kandidat der Republikaner, lag bei der Abfassung des Tweets im Popular Vote (noch) vorne).
The electoral college is a disaster for a democracy.
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) 7. November 2012
Befürworter des Systems verweisen auf die gute Absicht der Gründerväter, die bei der Entwicklung des Electoral College einen Ausgleich zwischen bevölkerungsarmen und -reichen Bundesstaaten im Auge hatten. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Argument jedoch als haltlos.
Als der Verfassungskonvent von 1787 nach einem idealen Wahlsystem für die Vereinigten Staaten suchte, standen die Gründerväter vor einigen Herausforderungen. Das Land war groß und nicht sehr dicht besiedelt. Es gab noch keine politischen Parteien und kaum Informationen über Kandidaten und Programme. Die Schaffung des Wahlleutekollegiums war in erster Linie für den Rücken der Pferde gemacht, um Wähler, Wahllokale und die Bundesstaaten mit der Zentralgewalt zu verbinden. Da es noch keine politischen Parteien gab, fürchtete man, dass die Wahlberechtigten ausschließlich lokale Kandidaten wählen würden, da sie aufgrund der Weite des Landes und der bescheidenen Kommunikationsmittel der Zeit gar keine anderen kannten. So würden zwangsläufig „Native Sons“ der bevölkerungsreichsten Staaten als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hevorgehen und das wollte man mit dem Electoral College verhindern.
Mit dem Aufkommen der politischen Parteien wurde dieser Aspekt des Systems jedoch überflüssig, da die Loyalität der Wähler von den Bundesstaaten zu den überregional agierenden Parteien wechselte. In der Versammlung zum 12. Verfassungszusatz 1803 wollte man auf diese Entwicklungen reagieren. So musste künftig über den Stimmzettel nicht nur der Präsident, sondern auch der Vizepräsident (bisher der Zweitplatzierte) gewählt werden und die 2 Kandidaten einer Partei durften nicht aus dem selben Bundesstaat kommen - eine Regel, die bis heute gültig ist.
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Die Chance, das Wahlleutesystem gleich zu kippen und zur Direktwahl zu schreiten, wurde jedoch vertan. Angesichts der blutigen Nachwehen der Französischen Revolution hielt man den gemeinen Wähler noch nicht für demokratiepolitsch mündig genug. Außerdem zeichnete sich eine neue Gewichtung der politischen Kräfte ab. Die Fronten verliefen nicht mehr so sehr zwischen bevölkerungsreichen und -armen Bundesstaaten, sondern zwischen Norden und Süden. Im Norden gab es erste Anzeichen für die Abschaffung der Sklaverei, im Süden blieb sie die Basis für das Wirtschaftssystem. Da im Süden weniger Menschen lebten, fürchteten seine Deligierten wohl zu Recht, dass ein Präsident aus dem Norden früher oder später die Aufhebung der Sklaverei betreiben würde.
In zähen Verhandlungen setzte sich der Süden durch. Das Wahlleutesystem blieb bestehen. Mehr noch: die Sklaven wurden in die Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundesstaates mit einem Schlüssel von 2:5 eingerechnet, obwohl sie nicht wählen durften. Das brachte dem Süden mehr Wahlleute und stützte somit das System der Sklaverei auf Jahrzehnte hinaus. Die ersten 32 von 36 Jahren Gründerzeit kam der US-Präsident aus Virgina und war ein Sklavenbesitzer. Es sollte bis zum 6. August 1965 dauern, bis Schwarze in den USA das bedingungslose Wahlrecht erhielten.
Chancen für eine Reform
Der Mythos vom Interessensausgleich zwischen kleinen und großen Bundesstaaten durch das Wahlmännersystem ist also genau das, ein Mythos - übrigens auch im Sinne von Checks & Balances. Mit dem demographischen Wandel der letzten Jahrzehnte wird das Wahlkollegium immer weniger den Wählerwillen reflektieren. Was einst geschaffen wurde, um eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern, hat sich mittlerweile in eine „Tyrannei der Minderheit“ verwandelt. Das Zweiparteiensystem der USA scheint auf Ewigkeiten zementiert, die Kandidatur unabhängiger Kandidaten ist aussichtslos. Auch kleine Parteien haben in der Praxis keine Chance. Fragt man Experten, so wird die Kluft zwischen den Wählerstimmen und den Wahllleuten in Zukunft immer größer werden. Ein Vorsprung im Popular Vote ist dann nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.
Die faktische Macht des Wahlleutekollegiums, einen Wahlsieger, der die Demokratie gefährden könnnte, durch das Nichtdeligieren der Stimmen zu verhindern, wird wohl in der Praxis auch dieses Mal nicht mit Leben erfüllt werden, obwohl bei Donald Trump erhebliche Zweifel angebracht sind, was sein Demokratieverständnis betrifft.
Und eine Reform des Systems ist unwahrscheinlich. Die dafür notwendige Voraussetzung einer Zweidrittelmehrheit im Kongress wird aufgrund der Polarisierung durch das Zweiparteiensystem kaum zu erreichen sein. Immerhin könnten die Bundesstaaten in der Frage der Deligierung der Wahlleute durch ein einfaches Gesetz vom Mehrheitswahlrecht auf ein Verhältniswahlrecht umsteigen, so wie das bereits in Nebraska und Maine praktiziert wird. Aber auch hier sind die Chancen eher gering. Die traditionell von den Republikanern gehaltenen Bundesstaaten und die sogenannten Swing States profitieren einfach zu sehr vom bestehenden Modus.
Obwohl er also streng formal betrachtet noch gar nicht gewählt wurde, ihn Hillary Clinton im Popular Vote um 2 Millionen Stimmen abgehängt hat und Wahlanfechtungen in mehreren Bundesstaaten drohen, wird Donald J. Trump am 20. Januar 2017 in Washington höchstwahrscheinlich doch als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden.