Erstellt am: 24. 11. 2016 - 15:45 Uhr
Cathy & Daniel, us & them
Bevor wir zu Ken Loach kommen, noch ein bisschen Werbeblock. Als ich neulich im Kino war, um mir „I, Daniel Blake“ anzusehen, lief da nämlich der heurige vorweihnachtliche IKEA-Spot. Ein Bub schaut aus dem Fenster in die Nacht, man sieht seinen Ausblick auf einen grimmigen britischen Council Estate (Gemeindebau).
Sozialer Realismus im Werbeblock
Eine Frau steigt aus dem Bus, sie trägt einen billigen Parka, darunter die Uniform einer Krankenschwester. Sie geht durch die dunkle Wohnsiedlung, kommt nach Hause zu ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn, der sich was ausdenkt. Wir sehen ihn auf seinem BMX-Rad durch die Siedlung fahren, an Türen klopfen, mit Nachbarn eingepackte Gegenstände herbeitragen, mit Kabeln hantieren, dann wieder in die Trostlosigkeit der anbrechenden Dunkelheit starren.
Ken Loach
Wieder steigt die Mutter aus dem Bus, geht durch die düstere Unterführung, aber diesmal steht da eine Stehlampe auf dem Asphalt und dann überall entlang des Wegs und der Fußgängerbrücke, auf den Bäumen, alles ist voller Lichter.
Dazu singt Patrick Watson zu verlorenen Klaviernoten „shining a light, bring us back home“. Die Krankenschwester kommt nach Hause, geht auf ihren kleinen Sohn zu, sie tauschen bedeutungsvolle Blicke aus, sie nimmt ihn in die Arme, man sieht, dass ihr Tränen das Gesicht runter laufen.
Nicht sanfte Rührungstränen, sondern „Das Leben ist so hart, aber wir haben immer noch uns“-Tränen. Dazu sagt eine Stimme aus dem Off mit schwedisch/amerikanischem Akzent „Life's better at the flick of a switch – Ikea, the wonderful everyday“.
An diesem Punkt hat's mich gerissen, in der vorangegangenen Minute hatte ich nämlich glatt vergessen, dass ich da eine Werbung sehe. Und auch wenn der in Verbindung mit den Bildern geradezu spöttische Slogan die gesamte emotionale Wirkung des Films torpedierte, konnte ich nicht anders, als die feine Klinge des Zielgruppenmarketing bewundern. So wie man vor einem James Bond-Streifen die Männerparfum-Werbung mit dem Rennboot vorgesetzt kriegt, übte der Möbelkonzern sich hier passend zum Hauptfilm in sozialem Realismus.
Irgendwer in der Werbeagentur muss erfasst haben, dass britische Ikea-Kund_innen die üblichen Bilder von sonnendurchfluteten Stockholmer Wohnungen eher als Verarschung, denn als realistisches Ziel ihrer Aufstiegsfantasien empfinden.
Die größte Ironie aber ist, dass die ganze Bildsprache, der sich die Werbung da bediente, direkt auf Ken Loach zurückgeht.
Obdachlosigkeit als öffentliches Thema
Noch eine Rückblende, bevor wir endlich zu „I, Daniel Blake“ kommen. Vor ziemlich genau fünfzig Jahren zeigte die BBC ein revolutionäres TV-Drama namens Cathy Come Home, ein semidokumentarischer, gegen die damaligen Fernsehkonventionen großteils mit Handkameras gedrehter Film über Obdachlosigkeit mit einer alleinerziehenden Mutter in der Hauptrolle.
Der Regisseur des von Jeremy Sandford mit klarer didaktischer Motivation geschriebenen Fernsehspiels war ein junger Ken Loach, und seine Bilder aus dem echten, vom bunten Traum des Sixties-Pop weit entfernten Britannien des Jahres 1966, erreichten dank des damaligen BBC-Monopols auf einen Schlag ein Publikum von 12 Millionen.
„Cathy Come Home“ machte Obdachlosigkeit von einer verdrängten Tatsache zum öffentlichen Thema. Shelter, bis heute die wichtigste britische Wohltätigkeitsorganisation für Obdachlose, wurde kurz nach der Ausstrahlung des Films gegründet.
Ken Loach lernte einiges aus dieser Erfahrung: Zum einen, dass man mit Filmen politische Debatten auslösen kann. Zum anderen, dass auch die größte Öffentlichkeit kaum konkrete Veränderungen bewirken kann. Die Obdachlosenzahlen gingen nach „Cathy Come Home“ auch nicht runter.
„I, Daniel Blake“
Und damit endlich zu „I, Daniel Blake“, der Geschichte eines älteren Witwers in Newcastle, dem nach einem Herzinfarkt während seiner Arbeit am Bau der Arzt den Krankenstand verordnet. Blake ist, wie so viele Bauarbeiter, nicht fix angestellt, er braucht also eine staatliche Beihilfe, um eine Periode der Arbeitsunfähigkeit finanziell zu überbrücken.
Doch die Gutachterin der ausgegliederten Privatfirma, die vom Staat beauftragt ist, die potenziellen Bezieher_innen dieser Beihilfe einzustufen, erklärt ihn für gesund. Ohne allzu viel vorweg zu nehmen: Blake versucht sich gegen das Urteil zu wehren und gerät in der Kommunikation mit dem Sozialstaat und seinen Vertragsfirmen in eine ruinöse, kafkaeske Endlosschleife.
Zwischendurch lernt er eine Frau mit zwei Kindern kennen, die von ihrer Londoner Gemeinde wegen eines Mangels an Sozialwohnungen hinauf in den Norden geschickt wurde. Unverschuldet versäumt sie ihren ersten Termin beim Arbeitsamt und wird dafür mit Aussetzen ihrer Beihilfen bestraft.
Das zynische Sozialsystem
Mit nüchternem Blick und ohne viel Dramatisierung führt uns Loach die Tücken des alltäglichen Spießrutenlaufs des mit Strafen, Sanktionen, technologischen und administrativen Hürden, zynisch auf das blanke Minimum zurechtgestutzten Sozialsystems des Britannien der ewigen Austerität vor.
Ein System, das Menschen ohne Computer zwingt, alle ihre Anträge online zu stellen. Das ökonomisch nutzlos gewordene Modernisierungsopfer (doch, die gibt es) mit hohler Motivationsphraseologie verhöhnt. Bis es sie zermürbt.
Loach hätte härter werden können. Er hätte uns zeigen können, was den jungen Nachbarn und der jungen Mutter auf ihrem weiteren Weg noch alles droht. Er hätte die Entwürdigung, sein Essen bei der Food Bank abzuholen, mit dem Glanz der High Streets kontrastieren lassen, hätte die Szene im Vorstadt-Puff mit Bildern aus dem Arbeitsalltag so richtig eklig gestalten können.
Und jene weibliche Polterabend-Partie, die Daniel Blake bei seinem großen Protest zujubelt, hätte ihn im echten Leben vielleicht ausgelacht oder vermutlich einfach ignoriert. Aber vielleicht gibt es in Newcastle tatsächlich noch mehr Solidarität mit den vom Leben Überfahrenen als in London.
Gerade dass Loach der Versuchung widersteht, solche Härten auszuschlachten, macht seine Geschichte aber umso glaubhafter. Die Kehrseite davon ist, dass man sich manchmal fragt, wie gut all diese Leute sein müssen, um unser Mitgefühl zu verdienen. Doch andererseits steht dieser Idealisierung des Salz der Erde auch die ständige Dämonisierung der Daniel Blakes und der mittellosen, alleinstehenden Mütter und ihrer Kinder entgegen.
Dinge klarer sehen
Ein bisschen Agit-Prop wird bei diesem Gegenwind noch erlaubt sein müssen. Und interessanterweise bietet Ken Loach in „I, Daniel Blake“ im Gegensatz zu früheren Werken auch keine Lösung in Form eines organisierten Widerstands an. Die Menschen in seinem Film sind auf einander angewiesen, aber die Gesellschaft, in der sie leben, ist zu systematisch atomisiert, um größere Gemeinsamkeiten zu erlauben.
Bevor ich ins Kino ging, fragte ich mich, ob ich mich mit so einem Film bloß sinnlos deprimieren, oder noch schlimmer, mich im geschützten Middle Class-Ghetto-Programmkino in der Selbstgerechtigkeit des kultivierten Sozialerotik-Connaisseurs suhlen würde, der mit gutem Gewissen auf den gemeinen Sozialpornokonsumenten aus dem Reality-TV-Land herabblickt.
Aber die Bedenken waren unbegründet. Ich betrat zwei Stunden später die vorweihnachtlich funkelnde High Street mit tiefer Wut und Trauer im Bauch, aber auch mit dem simplen, befriedigenden Gefühl, die Dinge klarer zu sehen als zuvor. Und mehr kann man von so einem Film nicht verlangen.
Als Übersetzungshilfe aus dem Britischen bietet sich übrigens die derzeitige Debatte um die Mindestsicherung in Österreich an.