Erstellt am: 23. 11. 2016 - 18:47 Uhr
„Kleine Anhebung der Mindestlöhne halbiert Arbeitslosigkeit in Europa“
Barack Obama hat es vor einer Woche in Athen bei seinem Besuch betont. Das rigoros auferlegte Sparen in Griechenland alleine reicht nicht, damit das hoch verschuldete Land aus der Wirtschaftkrise herauskommen kann. Hingegen haben die internationalen Geldgeber diese Woche bei aktuellen Verhandlungen in Athen gefordert, das Streikrecht zu schwächen, Massenentlassungen gesetzlich leichter zu ermöglichen und den Mindestlohn von 3.35 Euro für junge Arbeitskräfte noch weiter runter zu setzen.
Claus Pirschner/Radio FM4
Im FM4-Interview analysiert Rania Antonopoulou (Syriza Partei), griechische stv. Ministerin zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die aktuelle Lage am griechischen Arbeitsmarkt, erzählt von ihren nationalen Maßnahmen und schlägt EU-weite Lösungen vor.
Working Poor & Braindrain
Rania Antonopoulou
Jede/r vierte GriechIn ist trotz sich gering verbessernder Arbeitsmarktdaten ohne Job und die Masse der Working Poor, also jener, die trotz ihrer Arbeit gar nicht ökonomisch über die Runden kommen, steigt. Bei den Jungen ist sogar jede/r zweite ohne Job, eine Viertel Million junger GriechInnen ist in den letzten fünf Jahren ausgewandert.
„Das ist ein Desaster – die klügsten Köpfe verlassen das Land“, so Antonopoulou. Sie fehlen beim Wiederaufbau der Wirtschaft. In absoluten Zahlen ist die Arbeitslosigkeit übrigens am höchsten bei den 30 bis 44-Jährigen, sie machen 400.000 der insgesamt 1,2 Millionen ohne Job aus. Bei Frauen liegt die Arbeitslosigkeit höher als bei Männern. Allerdings gibt es in der Krise nun neue prekäre Jobs für 100, 200 oder 300 Euro im Monat und die werden stärker von Frauen übernommen:
„Frauen akzeptieren schlechtere Arbeitsbedingungen schneller als Männer, die länger brauchen, um sich an das Downgrading anzupassen“, erläutert die Ministerin. Die zunehmende Anzahl der Working Poor gibt es nicht nur wegen der Wirtschaftskrise, sondern auch weil der Austeritätskurs der TROIKA prekäre Jobs fördert: So musste Griechenland den Mindestlohn auf 3,35 Euro pro Stunde senken und mehr Teilzeitjobs ermöglichen. Ein weiteres Problem am griechischen Arbeitsmarkt ist, dass ein Drittel der Löhne nicht rechtzeitig ausbezahlt werden, oft mit einer Verzögerung bis zu einem halben Jahr.
Claus Pirschner/Radio FM4
Was kann die griechische Regierung gegen Erwerbsarmut und Arbeitslosigkeit unternehmen? Zentral ist, dass die Wirtschaft wieder anspringt und neue Jobs entstehen. In der Zwischenzeit haben Antonopoulous staatliche Förderprogramme im letzten Jahr immerhin 95.000 arbeitslose Menschen erreicht: Weiterbildung, Jobtraining und garantierte Arbeitsplätze im Anschluss – zumindest für ein halbes Jahr. Die Ökonomin Antonopoulou hat bereits vor ihrer Zeit als Ministerin als Wissenschafterin an der Entwicklung von Programmen mit Jobgarantien für Langzeitarbeitslose geforscht. Zusätzlich sind weitere 100.000 Jobs im letzten Jahr am Arbeitsmarkt entstanden – auch weil Lohnnebenkosten gesenkt wurden.
Höherer Mindestlohn für Europa
In der gesamten EU haben 21 Millionen Menschen keinen Job. Rania Antonopoulou fordert dringend einen neuen europaweiten Lösungsversuch. Zum Beispiel tritt sie für eine minimale Anhebung des Mindestlohnes in Europa ein: „Wenn wir den Mindestlohn in Europa um 0.5 bis 1.5 % erhöhen, dann hätten wir innerhalb von 3 Jahren 10 Millionen neue Jobs. Warum? Mit mehr Einkommen erhöhen sich die Nachfrage und daraufhin die Produktion und dann braucht es mehr Arbeitskräfte.“
Die Hälfte der in der EU produzierten Waren wird in andere EU-Länder exportiert. Wenn man das Einkommen in einem Land erhöht, steigert das nicht nur den Konsum der eigenen Waren und auch des Imports. Ihr Vorschlag erhält derzeit europaweit kaum Gehör und wird nicht breit diskutiert.
„Die Frage ist, warum beharren wir politisch darauf, den falschen Weg, die falschen Maßnahmen fortzusetzen, obwohl wir wissen, dass so eine geringe Anhebung der Löhne in Europa – aufeinanderfolgend und kontrolliert zuerst in Deutschland, dann Frankreich und so weiter – dazu führt, dass die Arbeitslosigkeit in Europa halbiert wird. Das ist ein Verbrechen gegenüber den Arbeitslosen“, warnt Antonopoulou. Wenn man sich in Europa nicht auf eine gemeinsame Vorgehensweise einer solchen Lösung einige, dann würden rechte Bewegungen und Parteien noch mehr Zulauf erhalten. Aus der Sicht der griechischen Ministerin fehle der politische Wille, diese kleinen Änderungen vorzunehmen, die so einen bedeutsamen Unterschied machen würden.
Weiters schlägt Rania Antonopoulou vor, dass EU-Länder mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosenrate (5% über der EU-Arbeitslosenrate) ihre Ausgaben zur Schaffung neuer Arbeitsplätzen aus dem primären Budgetdefizit herausrechnen dürfen. Das würde eine offensivere Arbeitsmarktpolitik ermöglichen. Zum Eindämmen der Erwerbsarmut plädiert Rania Antonopoulou Flexicurity europaweit umzusetzen. Flexibilität und Security, also flexiblere Arbeitsverträge mit gelockertem Kündigungsschutz, aber mit sozialer Sicherheit – etwa indem Arbeitskräfte mit Löhnen unter dem Existenzminimum öffentliche Zuschüsse erhalten.
Antonopoulou blickt für einen weiteren Vorschlag weit über Europa hinaus und verweist auf ländliche Regionen in Indien - wo seit 2005 für die Hälfte des Jahres das Recht auf Vollzeitjobs geschaffen wurde - und ähnliche Modelle in Schweden und Australien. Ebenso unterstützt sie den vom italienischen Finanzminister Padoan vorgeschlagenen EU-Fond für die Versicherung von Arbeitslosen.
Fokus auch auf Solidarwirtschaft
Claus Pirschner/Radio FM4
In Griechenland ist eine Reaktion auf die seit acht Jahren andauernde Wirtschaftskrise eine wachsende Solidarökonomie. Menschen schließen sich zusammen, eröffnen eine Kooperative und verkaufen Waren wie Obst, Gemüse, Honig oder Waschmittel direkt ohne teuren Zwischenhandel oder sie stellen Waren sogar selber her.
In ganz Griechenland wird so ein alternatives Versorgungsnetz aufgebaut. Für viele sind solche Kooperativen in der Krise überlebensnotwenig geworden. Letztlich stehen die Solidarbetriebe als Alternative zum Wirtschaftssystem, das in diese Krise geführt hat. Klassische Unternehmensstrukturen werden in Frage gestellt.
Rania Antonopoulou hat nun ein Gesetz durchgebracht, das die Sozialökonomie mit 157 Millionen Euro in Form von Förderungen und de facto zinslosen Krediten stützt. Neu einzurichtende Beratungszentren in allen 13 griechischen Regionen geben Tipps zum Gründen und Führen von Solidarbetrieben. Antonopoulou hat aufgrund der staatlichen Schuldenlast, der bisherigen Rezession und des Austeritätskurses sehr begrenzte Möglichkeiten in der Arbeitsmarktpolitik. Sie konnte trotzdem einige Maßnahmen setzen. Ihr nächstes politisches Ziel liegt in Europa, etwa BündnispartnerInnen für eine gemeinsame minimale Anhebung des Mindestlohnes zu finden. Ohne Druck der Bevölkerungen werde es kaum gehen, meint sie:
„Ideen, die sehr nützlich und unterstützend für die Menschen sind, das hat derzeit keine Priorität in Europa und das müssen wir ändern. Wir werden keine fundamentalen Veränderungen schaffen ohne eine Mobilisierung der Bevölkerung.Wir versuchens es.We need you on our site to keep yelling and screaming about these issues!"