Erstellt am: 16. 11. 2016 - 14:19 Uhr
Ein gewöhnliches Leben
Jeden Morgen, genau um 6 Uhr, geht Dontsho aus seinem Haus um sein Morgen-Jogging am Donaukanal zu machen. Genau nach einer halben Stunde ist er wieder zu Hause. 20 Minuten lang isst er Müsli mit Obst (er kaut jeden Bissen genau 20 Mal. Ich hab' mich immer gefragt, was an dieser gräßlichen Kotze überhaupt zu kauen ist). Er trinkt eine Tasse Kapsel-Espresso für genau zehn Minuten. Er duscht sorgfälltig für acht Minuten. Er zieht seinen Anzug an und bindet seine Krawatte (sieben Minuten).
Mit Akzent
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Um 7:25 nimmt er die U-Bahn. Genau um 7:45 hat Dontscho Panajotow seine ID-Card im Büro eingecheckt und ist bereit, den Kapitalismus zwischen 8 und 5 Uhr aufzubauen (mit einer Stunde Mittagspause). Und so geht das – von Montag bis Freitag. Dontscho hackelt in einer Softwarefirma, die Produkte für Banken und Versicherungsfirmen entwickelt.
Dontscho wurde in Dupniza geboren, eine Stadt ungefähr 60 Kilometer von Bulgariens Hauptstadt Sofia entfernt. Man scherzt oft über Dupniza. Denn viele meinen, dass Dupniza vom bulgarischen Wort "dupe" stammt. Und das bedeutet nichts weniger als Arsch.
dupnitsa.net
Dontscho ist der Stolz von Dupniza. Man kann sogar sagen, dass er eine lokale Berühmtheit ist. Die örtliche Zeitung veröffentlichte einen Artikel über ihn: "Ein junger Softwareentwickler aus Dupniza, tätig in Wien, entspannt sich in seiner Geburtsstadt". Sie hatten ihn in Badehose vor einem Swimmingpool fotografiert. Im Artikel erzählt er, wie es in seiner Kindheit in Dupniza in den 90er Jahren kein Brot und Joghurt gegeben habe und er jetzt "alle Käsesorten der Welt in seinem Kühlschrank" hat. Dann erklärt er überheblich seine Ziele im Leben und erzählt, wie wichtig seine Arbeit ist.
In Wirklichkeit hasst Dontscho seine Arbeit. Jeden Montag, wenn er sein Morgen-Jogging macht, wartet er schon auf Freitag Abend. So ist es auch am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Am Freitag Abend hat Dontscho unendlich viel Spaß. Nachdem er die ganze Woche den Kapitalismus aufgebaut und Software für Banken und Versicherungsfirmen verbessert hat, will Dontscho das Leben genießen. Er hat alle Drogen ausprobiert (er hat Geld und kann sich das leisten), er wechselt seine Freundinnen öfter als seine Unterhosen (sie kommen von selbst auf ihn zu, da er Geld hat), er probiert immer wieder neue Arten von weirdem Sex aus (Dontscho hat Geld).
Er kauft sich alle Arten von neuen elektronischen Geräten und sammelt Vinylplatten aus der ganzen Welt. Beim Karaokesingen singt er immer "We are the World" von Michael Jackson. Einmal reiste Dontscho übers Wochenende nach Thailand. Er erzählte stolz, dass er das Rotlichtviertel erreicht und dort Spaß hatte. Im Flugzeug zurück nach Wien hat er dann ausgeschlafen. (Dontscho reist in der Business Class, denn er hat Geld).
Mathias Krumbholz
Dontscho ist einsam. Er glaubt, dass ihn niemand versteht. Die Welt ist für Dontscho kalt (sogar in Thailand). Dontscho spürt kein Vergnügen und keinen Schmerz mehr. Insgeheim wünscht sich Dontscho den Weltuntergang. Er hat Trump die Daumen gedrückt. Dontscho mag die Flüchtlingskrise, denn sie ist für ihn ein Schritt in Richtung Weltende.
Jede Nacht träumt Dontscho davon, wie er Godzilla auf dem Stephansplatz Willkommen heißt. Er schwenkt eine Flagge in seinen Händen. Der Platz ist voll mit Dontschos, Stefans, Kathis und Monikas. Dort ist Dontschos verhasster Chef, dort sind alle seine Exfreundinnen, dort ist das namenlose Mädchen aus Thailand, dort ist ganz Facebook. Alle haben eine Flagge in der Hand. Dontscho will sie alle durchficken.
Er wacht auf. Es ist Zeit fürs Morgen-Jogging.