Erstellt am: 15. 11. 2016 - 18:10 Uhr
Wie gehen wir mit Gewaltvideos auf Facebook um?
Groß ist das Entsetzen über eine Gewalttat, die in einem Video zu sehen ist, das momentan auf Facebook kursiert. Zu sehen sind vier Jugendliche, die auf ein 15-jähriges Mädchen einschlagen, bis sie Blut spuckt und ihr Kiefer bricht. Das Video wurde mittlerweile 4,5 Millionen Mal angeklickt, tausende Male geteilt und kommentiert. Passiert ist das Ganze letzten Mittwoch in Wien Donaustadt. Gestern konnte das Opfer das Krankenhaus nach einer Operation wieder verlassen.
Die Täterinnen, drei Mädchen im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, wurden von der Polizei ausgeforscht und wegen schwerer Körperverletzung angezeigt. Der männliche Angreifer hat sich selbst der Polizei gestellt. Ihm wurde der Druck auf Facebook zu groß, denn Facebook-Nutzer hatten die Namen und Telefonnummern der Angreifer in den Kommentaren unter dem Video veröffentlicht. Grund für die Tat war eine Streiterei unter den Jugendlichen.
Claudia Unterweger hat mit Elke Prochazka, Psychologin bei Rat auf Draht und Safer Internet, über die Gewalttat und das Video gesprochen.
Jan Hestmann / Radio FM4
Wie war Ihre erste Reaktion auf das Video?
Egal ob man Psychologin ist, Mama, Lehrkraft oder was auch immer, dieses Video geht einem natürlich nahe. Ich war schockiert. Gerade der Faktor der Inszenierung, der in diesem Video sehr im Vordergrund steht, wo überlegt wird, von welcher Seite nimmt man das Schlagen auf, auch die Tatsache, dass da offensichtlich Passanten vorbei gehen, die kurz nachfragen, ob alles ok ist und dann offensichtlich einfach weitergehen, obwohl relativ eindeutig spürbar war, dass da nicht alles ok ist, also da kommt sehr viel zusammen, was uns schockiert. Und das ist auch gut, dass es uns schockiert und berührt.
Das Prügelvideo erinnert an ein Phänomen, das schon länger bekannt ist. Happy Slapping wird das genannt, oder Smack Cam. Dabei filmen sich Jugendliche selbst bei Schlägereien und stellen die Videos dann ins Internet.
Ist dieses Video auch ein Happy-Slapping-Video?
Man kann das durchaus als Smack Cam bezeichnen, wobei ich hier nicht von einer Schlägerei sprechen würde, sondern das ist ganz klar eine inszenierte Gewalt gegenüber einer Person, die einfach versucht, das Ganze über sich ergehen zu lassen. Das Problem, dass wir generell haben, ist, das es nach wie vor gelingt, sich mit Gewalt ein Stück weit Anerkennung zu verdienen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es ist auch etwas, das Jugendliche durchaus in ihrem Alltag auch als hilfreiche Konfliktlösungsstrategie erleben. Das ist glaub ich das, wo es gilt, anzusetzen.
Aufmerksamkeit kann man ja auch auf viele andere Arten und Weisen bekommen. Gerade im Internet. Warum versucht man es mit Gewalt?
Warum – das ist etwas, das wir uns sehr, sehr oft fragen und vielleicht auch nicht genug fragen. Wir sprechen oft mit Jugendlichen, wo es oft noch nicht so eskaliert wie hier. Die zum Beispiel einen riesigen Bluterguss haben, die Eltern vorbildlich reagieren und das wahrnehmen und die Jugendlichen die Eltern anbetteln, dass diese bitte nicht in die Schule gehen. Denn die Jugendlichen erleben, dass es schlimmer wird, wenn sie sich Hilfe holen. Das ist die eine Situation, die Opfer-Seite. Dass Jugendliche das Gefühl haben, ich kann mir keine Hilfe holen. Egal was passiert, weil es keine kompetente Lösungsstrategie gibt.
Auf der anderen Seite erleben Jugendliche, die Gewalt ausüben: 'Ich krieg da Respekt. Ich krieg Anerkennung. Ich krieg Aufmerksamkeit'. Warum holen sie sich diese Aufmerksamkeit nicht auf andere Art und Weise? Das ist genau das, was den Jugendlichen oft fehlt. Sie erleben dann, dass es hier einen Bereich gibt, wo sie Anerkennung bekommen. Sie sind vielleicht nicht gut bei den Leistungen, die Eltern sehen vielleicht gar nicht, was sie können. Und dann gibt’s da einen Bereich, wo sie erleben, dass sie stark sind, mächtig sind. Und wenn man sich die Klicks anschaut, dann ist die Frage, ob die Jugendlichen genau die gleichen Klicks, die gleiche Aufmerksamkeit bekommen würden, wenn sie jetzt vielleicht mit einem Skateboard super Tricks machen, die sie sich über Jahre erarbeitet haben. Diese Frage müssen wir uns auch stellen.
Sprechen wir über das Verhalten des Mädchens, dass da verprügelt wird. Sie wehrt sich überhaupt nicht, scheint sogar den Passanten, die da möglicherweise vorbeigehen, zu signalisieren, nein, nein, ist alles ok. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären?
Hier gibt es verschiedene Ansätze, die wir haben. Einerseits ist ja schon die Frage, die wir uns stellen, warum sich dieses Mädchen nicht gewehrt hat, so ein bisschen ein Indiz dafür, dass wir quasi eine Vorstellung davon haben, wie sich jemand in dieser Situation verhalten soll. Die Frage ist, ob wir alle von uns sagen könnten, wie wir uns verhalten, wenn wir mit mehreren Leuten konfrontiert sind, die um uns herumstehen, die auf uns einschlagen, wo das dann auch noch jemand mitfilmt.
Also ich glaub nicht, dass jemand von uns sagen kann, wie wir genau reagieren würden. Es geht in dieser Situation auch ein Stück weit darum, dass jemand unter Schock steht. Dass man irgendwie versucht, seinen Stolz möglicherweise auch zu bewahren. Und all das kann genauso etwas auslösen, was es bei diesem Mädchen ausgelöst hat. Dazu zu sagen, sie hätte so oder so reagieren sollen, das ist etwas, das dem, was sie erlebt hat, nicht gerecht wird.
Das Video wurde bereits mehr als 4,5 Millionen Mal auf Facebook angeklickt. Auch wir bei FM4 berichten darüber. Es wird eine riesige Aufmerksamkeit generiert. Haben die Jugendlichen damit ihr Ziel erreicht – beziehungsweise animiert das jetzt nicht auch andere Jugendliche, das nachzumachen?
Nachdem Jugendliche dadurch auch erleben, dass sie mächtig sind, dass sie Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommen, ist das natürlich schon etwas, das das Phänomen befeuert. Denn es wird berichtet, es gibt Comments, die durchaus das Verhalten, das sie hier gezeigt haben, quasi auch würdigen. Hier muss man sich ansehen, wer aller die Verantwortung trägt. Es sind einerseits Medien, es sind andererseits die sozialen Medien selber, die man hier nicht aus der Verantwortung nehmen kann. Es ist jeder einzelne, der sich dieses Video anschaut und auch teilt.
Auch von der Gesetzeslage her ist es nicht so, dass ich einfach ein gewaltverherrlichendes Video teilen oder über WhatsApp verschicken darf. Trotz alledem erleben wir, dass nichts passiert, wenn man das macht. Das heißt, es gibt hier sehr, sehr viele, die in der Verantwortung sind, wo wir alle dazu beitragen könnten, um an dieser Situation auch etwas zu verändern.
Eine der Täterinnen in diesem Video ist schon amtsbekannt. Sie hat das zuvor auch schon mal gemacht und es liegt bereits eine Anzeige gegen die 16-Jährige vor. Sie hat bereits Anfang November eine ähnliche Tat begangen. Trotzdem konnte diese Tat jetzt passieren. Was läuft da schief?
Einerseits geht es um eine mögliche Bestrafung, um eine Verurteilung dessen, was passiert ist, nach den Gesetzen, die wir einfach ganz klar in Österreich haben. Andererseits geht es aber auch darum, diesen Mädchen oder generell TäterInnen hier auch Unterstützung anzubieten, um eben ein anderes Verhalten zu setzen. Weil oft ist es eben so, dass das das einzig gelernte Verhalten ist, manchmal auch von Kind auf. Das heißt, eine Verurteilung, eine Bestrafung alleine hilft hier nicht. Es braucht auch diese Unterstützung, die oft dann auch wieder zu Aufruhr führt, die aber Jugendliche brauchen, um ihr Verhalten verändern zu können. Und das fehlt sehr oft.
Es wird in vielen Medien erwähnt, dass der männliche Angreifer, der in diesem Video zu sehen ist, tschetschenischer Herkunft ist und auch, dass der neue Beschützer des verprügelten Mädchens ebenfalls Tschetschene ist. Inwieweit ist die Information über die Herkunft der Jugendlichen Ihrer Ansicht nach relevant?
Das ist genau die Frage, die man sich stellen muss: Macht es einen Unterschied, wer zuschlägt? Noch dazu, wieso wird auf die Herkunft dieses einen Burschen geschaut, der eigentlich der einzige ist, der in diesem Video kurz zögert, indem er sagt: 'Ich kann das nicht.' Und dann einfach weiter dazu aufgefordert wird. Das ist natürlich auch eine Botschaft, die hier ausgesendet wird. Die Frage ist, ob es, allein aufgrund dieses Videos, nicht schon genug gibt, wo wir eigentlich handeln sollten und wo wir nicht wieder Verurteilung oder eine Bewertung mit hinein bringen sollten.
Gewalt unter Jugendlichen ist kein neues Phänomen. Aber sind wir jetzt in einer neuen Situation, weil es derzeit mehr Jugendliche gibt, die aus Regionen und Familien mit Kriegs- und Foltererfahrung kommen?
Es wäre falsch zu sagen, dass das, was wir hier erleben, oder das, was die Jugendlichen erlebt haben, keine Auswirkung hat. Das heißt, Jugendarbeit ist gerade in diesem Zusammenhang unfassbar wichtig. Aber es geht nicht nur um das, was die Jugendlichen erlebt haben, sondern auch um die zusätzlichen Möglichkeiten, die das Internet und Social Media mit sich bringen.
In den Kommentaren unter dem Video überschreiten viele Poster und Posterinnen selbst eine Grenze – sie posten die Namen und Handynummern der Täterinnen und des Täters und rufen zu Lynchjustiz auf. Die Polizei dokumentiert diese Hasspostings – aber kann man die Eigendynamik dieser Gewaltspirale, die jetzt verbal weitergedreht wird - irgendwie eindämmen?
"Das Internet nimmt uns die Menschlichkeit"
Gründerin des Blogs dariadaria, Madeleine Alizadeh, im Interview über Hass im Netz
Grundsätzlich muss man sagen, dass da eine ganz klare Verantwortung bei Facebook liegt. Das heißt, dass dieses Video online ist, kann so eigentlich nicht sein. Es entspricht ganz klar einer Straftat und es ist klar, dass es den Nutzungsrichtlinien widerspricht. Facebook sagt jetzt, dass das Video in einem verurteilenden Kontext steht. Das heißt, dass es auch Kommentare gibt, die sich für das Opfer aussprechen, deshalb wird das Video nicht gelöscht. Ich glaub, da kann man sich so nicht aus der Verantwortung nehmen. Das wäre das Erste. Das Zweite sind diese Hasspostings, wo auch Erwachsene sich sehr an der Nase nehmen müssen, weil Jugendliche hier sehr oft auch einfach ein Verhalten imitieren, das sie bei Erwachsenen sehen. Wo sie auch sehen, dass es im Großen und Ganzen keine Konsequenzen hat.
Das sehen wir auch in den Workshops und der Telefon-Beratung, wo wir den Jugendlichen sagen: 'Das sind Hasspostings, da musst du mit einer Verurteilung rechnen'. Aber sie erleben es tagtäglich anders. Sie erleben, dass sie solche Dinge posten können und es passiert nichts. Das macht natürlich etwas, und wir werden dadurch auch sehr unglaubwürdig. Die Vorbildwirkung, dass so etwas überhaupt möglich ist, das alles trägt dazu bei. Wir hätten viele Möglichkeiten an dieser Stelle anzusetzen, aber es fehlt hier an allen Ecken und Enden.
Es gibt immer wieder solche Gewaltvideos, die auf Facebook gestellt werden. Manchmal ist es auch so, dass Jugendliche selbst erkennen, dass das, was zu sehen ist, nicht ok ist und das dann auch melden, um dieses Video entfernen zu lassen. Es passiert aber nichts. Welche Verantwortung trägt denn ein Medium wie Facebook?
Ich glaube, gerade ein Medium wie Facebook, das sich ja durchaus für Jugendschutz einsetzt, schlägt hier momentan einen Weg ein, der unseres Erachtens absolut nicht sinnvoll ist. Denn Facebook hat uns und auch Jugendlichen, die etwas gemeldet haben, eigentlich geholfen, indem derartige Videos zum Beispiel sehr schnell aus dem Netz genommen worden sind. Jetzt ist die Idee, dass es, wenn es in diesem Verurteilenden-Kontext steht, in irgendeiner Art und Weise pädagogisch sinnvoll ist, es stehen zu lassen. Ich glaube hier wäre es wichtig, dass Facebook ganz klar Videos und Inhalte löscht, die gegen ein Gesetz und gegen die Nutzungsrichtlinien verstoßen.
Wenn Jugendliche und gerade die, die zivilcouragiert oder wie wir sagen, digitalcouragiert handeln, sich selber zu Wort melden, an Rat-auf-Draht wenden und sagen 'Hey, ihr habt doch diese Kontaktperson bei Facebook, könnt ihr etwas tun?' und dann erleben, dass sowohl wir, als auch sie selber die Rückmeldung bekommen, dass dieses Video online bleibt, weil es eben in einem verurteilenden Kontext steht, dann können Jugendliche das nicht verstehen und sie erleben sich dann auch als völlig hilflos.