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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

10. 11. 2016 - 15:21

The daily Blumenau. Thursday Edition, 10-11-16.

Ihr könnt das mit dem "postfaktischen Zeitalter" nicht mehr hören? Pech gehabt.

#demokratiepolitik

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die bisherige Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Die Tatsache, dass die Hälfte der Menschen aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgestiegen ist und sich in den Echokammern der Gefühligkeit eingebunkert hat, braucht deutlich mehr Benennung als Beschönigung.

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Es hat eine ganz schön lange Schrecksekunde lang gedauert, von Mitte September bis etwa jetzt.

Damals hat die deutsche Kanzlerin den vorher nur untergründig existenten Begriff vom "postfaktischen Zeitalter", in dem sich die westlichen Demokratien aktuell bewegen würden, gesetzt und damit auch etabliert.

Postfaktisch heißt, seine eigene Gefühlslage (also die kleine Blase, die man quasi in sich selber bildet) oder die der Gruppe, zu der man zu gehören gedenkt (also die größere Blase, die sich im Spiegelkabinett der kollektiv vereinten Gefühligkeiten bewegt), zu einer Realität hochzupimpen, die einem niemand nehmen kann. Schon gar nicht Andersgläubige oder gar jene, die in der Vergangenheit das Definitions-Monopol überhatten, die mit Fakten daherkommen: die Objektivierer aus den Medien und der Wissenschaft.

Das klassischste aller Beispiele: Auch wenn Wissenschaft und liberale Medien die Abstammung des Menschen vom Tier zehntausend Mal belegen können - wenn ich daran glauben will, eine göttliche Schöpfung zu sein, wird mich niemand abhalten können.

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Postfaktisches Denken verfestigt diffuse und vage Gedanken, überprüfungsfrei, in einen Aggregatszustand, der einem eine Festigkeit vorspiegelt, die das von der Faktenlage maximal Gasförmige nie erreichen hätte können.

Das macht die Welt unendlich einfach: Die Dagegenreder sind Verschwörer, haben eine finstere Agenda, wollen mich dirigieren. Besser Bauchgefühl und Hausverstand und überhaupt gleich das gesunde Volksempfinden.
Das Bedürfnis nach einer einfachen Welt und einer überschaubaren, immer in sich selber zu spiegelnden Weltsicht, ist dem Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts, der von technologischen Fortschritten und gleichzeitigen gesellschaftlichen Rückschritten überfordert/-vorteilt wird, nicht einmal übel zu nehmen. Sofern man sich für sich selber mit der Rolle des cocoonenden Neandertalers zufriedengibt.

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Der postfaktische Mensch anno 2016 ist also die perfekte Manövriermasse für jegliche Demagogie, ideales Opfer für jede Verschwörungstheorie und das perfekte Material für eine auf Gefühlsäußerung reduzierte Zuruf-Demokratie, also eine dem Autoritarismus zuarbeitende postdemokratische, illiberale Version dessen, was wir als repräsentative Demokratie kennen. Er ist das perfekte Opfer jener alten und neuen Eliten (Nationalen und Konservativen), die den Abbau der sozialen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die neuen oligarchisch-feudalen Strukturen der Herrschaft befördern: Man muss ihm nur Sündenböcke und Scheinmitbestimmung geben - den Rest erledigt der Algorithmus, der die Bestätigung und Selbstversicherung gibt, die bald das einzige Kapital sein werden, über das die 99% verfügen werden.

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Mit der Benennung als "postfaktisch" ficht man dieses Denken nicht an - es genügt sich selber. Trotzdem ärgert diese decouvrierende Zuschreibung jene, die gezielt und bewusst damit arbeiten, also die politischen Demagogen und ihre Handlanger. Weshalb - erst seit ganz kurzer Zeit - an einem Gegen-Narrativ zum Postfaktischen gearbeitet wird.

Die Argumentationslinie ist simpel: Es habe nie ein faktisches Zeitalter gegeben, alles (vor allem Politik) wäre immer schon emotionsbasiert gewesen. Und weil es noch nie ein faktisches gab, wäre der Begriff des präfaktischen Zeitalters richtiger. Das ist - philosophisch gesehen - gar nicht falsch; schwindelt sich aber - ganz bewusst - am Kern des Problems vorbei.

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Der populär daherdröhnende Begriff des "postfaktischen Zeitalters" bezeichnet einen ganz konkreten Bruch des Gesellschaftsvertrages zwischen den Klassen und den Weltanschauungen. Dass man sich nämlich, bei aller Unterschiedlichkeit in Denken und Ansprüchen, innerhalb desselben demokratischen Forums bewegt, also Grundregeln von Diskurskultur beachtet. Diese Übereinkunft hat bei den alten Griechen begonnen und dann eben dieser Tage geendet.

Jedes Thema, jedes Problem lässt sich aus mehreren Positionen heraus durchdenken und durchdiskutieren. Weil das postfaktische Denken aber sagt, dass nur die Ansicht der eigenen Blase richtig ist, kann und muss Widerspruch, muss jeder Dissens also das Werk einer Verschwörung sein.

Wer sich in die kuschelige Welt des Postfaktischen zurückzieht, gibt im Grunde seine Bürgerrechte auf und legt sein Mitwirken an einem demokratischen Prozess zurück.

PS: Dass diese Konsequenz des postfaktischen Denkens zentraler Teil des urfaschistischen Diskurses ist - Punkt 4 bei Eco - sollte angesichts zunehmender definitorischer Klarheit auch nicht verschwiegen werden.