Erstellt am: 9. 11. 2016 - 13:55 Uhr
Workingman's Blues #3
„Aus Brexit-Perspektive“, sagt der BBC-Politik-Korrespondent Norman Smith, als ich gerade aus dem Badezimmer komme, „könnte ein Präsident Trump für Britannien vorteilhaft sein.“
„Interessant, vielen Dank“, sagt der Anchorman.
Die Normalisierung ist also bereits in vollem Gange.
Als „Brexit plus plus plus“ hatte Trump vor ein oder zwei Tagen einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen bezeichnet. Diesmal also stand Großbritannien an der faschistischen Avantgarde (falls jemand über den Gebrauch des F-Worts streiten will, hier mein letzter Blog über die immer offener zu Tage tretende faschistische Natur des Brextremismus). Und nun findet der vernünftige Herr von der BBC Einigung mit dem Chef des Ku Klux Klan.
Aber das war für mich bei Weitem nicht das Schockierendste an diesem Morgen.
Der Moment, da mir wirklich der Mund offen blieb, war jener, als John Podesta, der Leiter der Präsidentschaftskampagne Hillary Clintons, sich in ihrem Hauptquartier ans Pult stellte und die dort Versammelten aufforderte, nach Hause zu gehen.
„Wir kommen wieder, wenn wir mehr zu sagen haben“, sagte er.
Wann, muss man sich da fragen, hätte es je mehr zu sagen gegeben als in diesem Moment, wo der Faschismus vor der Tür steht?
Haben die ethnischen und religiösen Minderheiten und die Frauen, die von Donald Trump und seinen Anhänger_innen in diesem Wahlkampf angegriffen wurden, jene 20 Millionen, deren Gesundheitsversorgung auf dem Spiel steht, und jene 11 Millionen, denen er die Ausweisung androht, nicht verdient, dass Hillary Clinton für sie das Wort ergreift?
Oder war ihr Wahlkampf tatsächlich nur ein Wahlkampf für sie selbst?
Zu befürchten ist, dass die Demokraten in den USA nun genauso implodieren wie die Labour Party post-Brexit. Und das, obwohl sie die Spaltung in den Reihen der Republikaner nützen könnten, um Trumps Triumph zu untergraben und dringend nötige neue Koalitionen zu bilden (auch das eine Parallele zu den britischen Konservativen, deren innere Spaltung mangels effektiver Opposition bisher völlig folgenlos geblieben ist).
Nein, Clinton hätte sofort sprechen müssen, es wäre ihre verdammte Pflicht gewesen.
Gestern hab ich mein Bob Dylan T-Shirt gebügelt, das ich 2006 zum Erscheinen seines Albums „Modern Times“ von seiner Plattenfirma geschenkt bekam.
Auf dem Rücken prangt da ein Zitat aus dem Workingman's Blues #2, einem der besten Songs des Albums: „You can hang back or fight your best on the front line.“
Bisher trug ich das T-Shirt nur unter Pullis, als Slogan außerhalb des Zusammenhangs fand ich die Zeile nämlich unerträglich pathetisch und bombastisch.
Aber heute Morgen ergab sie einen neuen Sinn. Das Kämpfen wird uns nicht erspart bleiben, genauso wie die Frage, wer „wir“ überhaupt sind.
Denn so viel ist klar: Auch die fortschrittliche Seite dieser gespaltenen Gesellschaft wird eine neue Platte auflegen müssen.
Mit dem stets neu aufpolierten Dinner-Besteck der Identity Politics-Etikette allein wird sich der Kampf gegen diesen neuen Barbarismus, der ungeniert mit bloßen Fingern frisst, ganz sicher nicht gewinnen lassen.
Gefühlte hunderte gewitzte Einzeiler über den „Whitelash“ und die Rache der alten weißen Männer hab ich heute schon gelesen, aber wenn die Analyse der „Linken“ nicht über Hautfarbe und Genitalien hinausgeht, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass die Gegenseite sich unter genau denselben Kriterien positiv identifiziert.
Laut einer Wählerstromanalyse, die Owen Jones am Vormittag auf seinem Twitter-Feed verbreitet hat, hatte Trump sowohl unter weißen Männern als auch Frauen die Oberhand, mit Ausnahme weiblicher College-Abgängerinnen. Auch unter denen schaffte Clinton aber übrigens nur eine Mehrheit von 6 Prozent.
Egal, wie dumm und leichtgläubig diese Trump-Wähler_innen sein mögen, die überwiegende Mehrheit davon würde es mit gewissem Recht als Chuzpe empfinden, von einer akademischen Linken wegen ihrer Hautfarbe, Genitalien oder sexuellen Orientierung als „privilegiert“ bezeichnet zu werden.
Das entschuldigt zwar nicht ihren feigen Rassismus gegen jene, die noch Unterprivilegierter sind als sie selbst.
Und es entschuldigt nicht ihre sagenhafte Blödheit, einem tatsächlich durch seine Herkunft privilegierten, völlig außer Rand und Band geratenen Reality-TV-Star auf den Leim zu gehen.
Aber es ist dringend mitzubedenken, bevor man – wie so viele progressive Gemüter auf meinen diversen Timelines – einfach so das gesamte amerikanische Proletariat zum Teufel wünscht.
Und damit nebenbei übrigens auch jene männlichen wie weiblichen Wähler_innen aus den ethnischen Minderheiten, die offenbar ebenfalls keineswegs geschlossen gegen Trump stimmten. Sonst wäre sein Sieg in einem sich drastisch verändernden, multikulturellen Amerika, wie uns unzählige Male vorgerechnet wurde, ja rein arithmetisch nicht möglich gewesen.
Ich komme dabei noch einmal auf das zehn Jahre alte Lied von Bob Dylan zurück. Wieso klingt allein der Titel „Workingman's Blues“ 2016 schon so verdächtig nach Donald Trump?
Ein genauerer Blick auf den Text macht den Eindruck nur noch schlimmer:
“The buyin' power of the proletariat's gone down
Money's gettin' shallow and weak
The place I love best is a sweet memory
It's a new path that we trod
They say low wages are a reality
If we want to compete abroad“
Das könnte fast schon aus einer Trump-Rede kommen.
Und doch ist es nicht falsch. Aber die Thematisierung dieser frustrierenden Realitäten sinkender Löhne und Lebensstandards im neoliberalen Zeitalter blieb – jenseits von Bernie Sanders – Trump überlassen, so wie in Großbritannien der Brexit-Fraktion und in Österreich...
Vielleicht hab ich was verpasst, aber ich hab keine Ahnung wie Bob Dylan zu Donald Trump steht.
Als Nobelpreisträger gehört er vermutlich selbst schon zur verhassten Elite. So oder so könnte er sich nicht aussuchen, wer sich selbst in seinen Songs wiederfindet.
Als Trump heute morgen von seiner Siegerrede zum Bad in der Menge überging, wurde die Halle dazu ironischerweise mit „You Can't Always Get What You Want“ von den Stones beschallt. Eine BBC-Kommentatorin meinte, vielleicht sei der Song ausgewählt worden, als selbst Trumps eigene Kampagne noch nicht an seinen Sieg glaubte.
Die Stones jedenfalls haben Trump mehrfach untersagt, ihre Musik zu verwenden.
Aber es ist ihm offensichtlich völlig schnurz.
So wie Brexit in Großbritannien brauchte Donald Trump in den USA vor allem die Stimmen verirrter Baby Boomer, um zu gewinnen. Man vergisst gern, dass die Sixties, als diese Leute jung waren, Dylan und die Stones hörten, vor allen Dingen ein Versprechen formulierten. Und nichts ist bitterer als enttäuschter Optimismus.
„The American Dream is dead“, sagte Trump in einer seiner Reden.
„The American Dream is a lie“, konterte Clinton.
Nein, es klang nur einen Augenblick so.
Sie hatte natürlich „alive“ gesagt.
Und das Publikum johlte, aber man spürte genau: Da liegt der Fehler. Da ist der Punkt, wo die schöne alte Leier als Verarschung ankommt.
Wer den Faschismus à la Trump oder Brexit besiegen will, darf den Leuten nicht mehr erzählen, wie gut es ihnen eigentlich geht.
Oder welche Chancen ihnen das System bieten würde, wenn bloß die Spielregeln ein bisschen fairer wären.
Das müssen sowohl die Linken als auch die mit ihnen in einer opportunistischen Zweckkoalition der nominellen Weltoffenheit verschränkten Neoliberalen einsehen: Der von Hillary Clintons Mann Bill und Tony Blair vorgezeichnete, im Geist dieses demokratischen Wahlkampfs noch einmal evozierte "dritte Weg" ist mit dem heutigen Datum nun wirklich endgültig am Ende.
A propos Dritter Weg: Habe gerade gegooglet und gesehen, dass in Deutschland heutzutage eine rechtsextreme Splittergruppe so heißt. Wusste ich als Exilant hier gar nicht, wundert mich aber alles nicht mehr.
Und nun eine ganz besonders wichtige persönliche Nachricht unter all der Düsternis (not!): Ich hatte heute morgen auf Twitter Streit mit einer guten Londoner Freundin, die findet, man müsse Leuten wie ihr Zeit zum Trauern geben. Die ganzen Aufforderungen, jetzt zu kämpfen, schrieb sie, „gehen mir auf die Titten.“
Too bad. Ich hätte es ja auch gern anders, aber dieser Luxus ist nun eindeutig vorbei.
Die innere Emigration haben schon andere in der Nazi-Zeit probiert. Sie endete, als die Männer in den Ledermänteln an die Türe klopften.
Es hilft nichts: Wenn der Mob auf die Straße geht und die Regierung und den Zeitgeist hinter sich sieht, dann muss man sich ihm organisiert entgegen stellen.
Sicher, der Widerstand hätte damals gegen die Nazis nicht gewonnen. Das bisschen in Österreich oder das bisschen mehr Deutschland nicht, aber auch nicht die Résistance in Frankreich. Gewonnen haben die Alliierten.
Aber dass die überhaupt zur Stelle waren, hatte sehr wohl auch damit zu tun, dass sich etwa in London das proletarische East End auf der Straße den aufmarschierenden britischen Faschisten in ihren Schwarzhemden in den Weg stellte, um die dort lebenden und arbeitenden Juden zu verteidigen.
Sag ich jetzt nur, weil wir gerade das 80. Jubiläum der Battle of Cable Street begangen haben.
Das unmoderne Wort, mit dem hier alles steht und fällt, heißt tatsächlich Solidarität.
Und wer da kichert, darf sich nicht wundern, wenn ihm übermorgen auch niemand zu Hilfe kommt.