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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

11. 11. 2016 - 06:01

Sex and the City of Dreams

In Mumbai, der liberalsten Stadt Indiens, blüht das Dating, auch mit Hilfe von Apps. Aber wo kann man als Liebespaar überhaupt hin? Und warum kommt dann immer doch die Hochzeit um die Ecke?

Bombay Diaries

Irmi Wutscher in Indien

88 Prozent aller Ehen in Indien sind arrangierte Ehen, sagt die Statistik. Die arrangierte Ehe ist hier also Standard, Jahrhunderte alte Tradition. Das hängt natürlich auch mit der patriarchalen Gesellschaft und ihren starren Geschlechterrollen zusammen. Und weil alles, was mit Sex zu tun hat, ein Tabu ist.

Mit arrangierter Ehe ist hier eine Ehe zwischen zwei Erwachsenen gemeint. Mittlerweile ist es in Indien zunehmend so, dass die Ehe zwar von den Eltern angebahnt wird, die Beteiligten aber ein gewisses Mitsprache- bzw. Vetorecht haben.

Ehen, bei denen Minderjährige verheiratet werden und nicht mitreden können, sind Zwangsehen und sollten auch so benannt werden. Das ist in Indien allerdings vor allem auf dem Land immer noch weit verbreitet. Wenn auch nicht legal: Offizielles Heiratsalter in Indien ist 18 Jahre für Frauen und 21 Jahre für Männer.

Und doch, an manchen Ecken und Enden sieht man sie: Pärchen. Sehr verstohlen und versteckt in Orten wie Chennai, wo man sich am Strand hinter leere Buden zurückzieht, um kurz zu kuscheln und Händchen zu halten. Oder in Madurai, wo Pärchen sich hinter Säulen im Palast verstecken. Und im für indische Verhältnisse ungleich liberaleren Mumbai sieht man indische Hipster, die sich beim ersten Date in Bandra West zu beeindrucken versuchen.

“Tinder is huge in Mumbai“

Als ich mich bei meinen Kolleg_innen umhöre, wie das so ist mit Flirten und Dating und Leute Kennenlernen, höre ich immer wieder „tinder is huge here“. Die Betreiber_innen der App selbst sagen, dass Indien ihr größter Markt in Asien ist, und dass die App 14 Millionen swipes am Tag verzeichnet.

In Zeichnungen gefasst hat das die Illustratoring Indu Harikumar mit ihrem Projekt „100 Indian Tinder Tales“, bei dem sie Stories von guten und schlechten indischen Tinder-Treffen sammelt und online stellt. Sie erzählt, dass Tinder sich in Indien ursprünglich als Heiratsvermittlungsseite vermarkten wollte. Bis die Realität anderes gezeigt hat.

Ich frage mich, wie junge Menschen das zusammenbringen: die traditionellen Werte in der indischen Gesellschaft, die Ehe, die in Indien mit vielen Vorschriften und vor allem für Frauen Gehorsam gegenüber der Schwiegerfamilie einhergeht, und Dating.

Mridula

Julia Wadhawam

Mridula ist Journalistin bei scroll.in

Genauer um Auskunft habe ich Mridula gefragt. Sie ist Journalistin bei scroll.in, einer jungen Internetplattform. Und war als solche natürlich early adopterin bei dating apps wie Tinder. „Bei Tinder findet man nur gewisse Leute“, sagt sie. „die kommen aus der Oberschicht, sind gebildet, sprechen Englisch. Viele von ihnen sind mit einem westlichen Lifestyle großgeworden, oft haben sie wenig Kontakt mit der indischen Kultur.“ Ihr Traum ist es oft auch, in die USA oder nach England oder sonstwohin auszuwandern. Das findet Mridula nicht so spannend, deswegen hat sie das mit Tinder wieder sein lassen. „Es kann aber sein, dass sich das mittlerweile ändert“, sagt sie. „Weil ja jetzt immer mehr Menschen ein Smartphone und Internetzugang haben.“

Dieser Text bezieht sich ausschließlich auf die heterosexuelle Partner_innensuche.
Schwul/lesbisches Dating ist noch einmal eine ganz andere Sache. Unter anderem weil Indien noch ein "sodomy law", geerbt von der britischen Kolonialherrschaft, hat, die Homosexualität kriminalisiert und mit Gefängnisstrafen belegt. Es gibt Berufung, das indische Höchstgericht beschäftigt sich derzeit mit diesem Gesetz.

Indu weiß, dass Tinder vor allem für junge Menschen in den Städten eine App unter vielen ist. Wenn einem oder einer fad ist, dann wischt man halt ein bisschen. „Bei Frauen, die ein wenig älter ist, da merkt man allerdings schon eine gewisse Scham, auf Tinder zu sein“, sagt Indu. „Die wollen zum Beispiel nicht, dass ihre Eltern davon wissen.“

Keine Chance, Ja zu Sex zu sagen

Ich frage, was man macht, wenn man mal jemanden findet. Jetzt abseits von Kuchen Essen und ins Kino Gehen. Eine Familienanwältin, die im ACJ eine Vorlesung über Grundrechte gehalten hat, erklärt uns: Für Frauen gibt es in der indischen Sexualmoral eigentlich keinen Weg, Ja zu Sex zu sagen. Sexuelle Aktivität ist nicht erwünscht, die Rolle der Frau ist immer im Abwehren festgelegt - das Bild wird zementiert in zahlreichen Bollywood-Filmen, bei denen der Held bis an die Grenze zum Stalking das Objekt seiner Begierde verfolgt. Vielleicht auch deswegen hat sich eine Rape Culture herausgebildet, in der das Nein der Frau immer als eigentliches Ja gewertet werden kann?

Mridula sagt, dass es immer noch eine wichtige Anforderung an Frauen ist, jungfräulich in die Ehe zu gehen – auf alle Fälle für Frauen der Oberschicht und der oberen Kasten.

Männern wird zugestanden, sexuell aktiv sein zu können. Frauen sollen das nicht „Auch bei uns am College war es so, dass Frauen, die sexuell aktiv waren, dann einen gewissen Ruf hatten“, sagt Mridula. Wie so oft wird die Ehre der gesamten Familie an der Sexualität der jungen Frauen festgemacht.

Kein Ort für Turteltäubchen

Wollte jetzt aber ein junges Paar einvernehmlich Sex haben: Wo kann es hingehen? In Indien lebt jede_r bis zur Hochzeit bei den Eltern, zu Hause fällt also eher aus. Durchschnittliche indische Eltern sind nicht locker, was das betrifft: „Don't get carried away“, geben sie ihrem Nachwuchs mit, wenn er oder sie die oder den Zukünftige_n (denn nur unter diesen Umständen wissen die Eltern vom Date) ausführt.

Dann also ins Hotel? Wer schon einmal in Indien ein Zimmer gesucht hat, der oder dem ist vielleicht aufgefallen, dass viele Hotels auf ihren Webseiten den Zusatz „No unmarried Indian couples“ vermerkt haben. Die Hotels lehnen unverheiratete Pärchen ab. Hilfe bietet mittlerweile das Internet, über gewisse Webseiten kann man Orte suchen, an denen man ungestört sein kann.

Es wird immer wieder argumentiert, dass Indien, das ja auch das Ursprungsland des Kama Sutra ist, vor der britischen Kolonialisierung ein sexuell ungleich liberaleres Land war. Und dass sowohl viktorianische/christliche Vorstellungen in der Kolonialzeit als auch muslimische Wertvorstellungen, die in der Moghul-Zeit nach Indien gekommen sind, diesen Liberalismus beendet haben. Für diese Theorie spricht, dass es in Südindien recht explizite Tempelreliefs gibt. Hindunationalist_innen wehren sich allerdings gegen diese Vorstellungen.

Immer wieder kommt es aber vor, dass die Polizei in Hotels Razzien durchführt und Turteltäubchen wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ festnimmt. Zuletzt geschehen 2015 in einem Vorort von Mumbai. Wer bei so einer Razzia erwischt und dessen Namen öffentlich gemacht wird, ist ruiniert. Die schlimmste Androhung der Polizei ist, den Eltern zu erzählen, dass sie den Nachwuchs im „love hotel“ erwischt haben.

Nicht nur die Polizei, auch parteinahe Organisationen oder Bürgerwehren spielen sich gerne als Moralpolizei auf und machen Jagd auf Pärchen. Z.B. die Shiv Sena, deren Untergruppe wir schon beim Kinoeintrag kennen gelernt haben, verbreitet am Valentinstag Angst und Schrecken. Dating sehen sie als „Angriff auf die indische Kultur“.

Ehe obligatorisch

Vor allem für Frauen führt kaum ein Weg an Hochzeit und Ehe vorbei. „Ausbildung und Karriere sind ja vielleicht nett", sagt Mridula. "Aber als wichtigstes Ziel im Leben einer Frau wird angesehen, verheiratet zu sein und Kinder zu bekommen."

Indu meint zu diesem Thema, dass sich die indische Gesellschaft in dieser Hinsicht stark geändert hat in den letzten zwei Jahrzehnten. Da die Menschen mehr in der Kernfamilie leben, wo beide Eltern arbeiten gehen, ist die soziale Kontrolle nicht mehr so groß. Auch der Einfluss amerikanischer Popkultur wird immer stärker. Deswegen wäre die Heirat, wie es noch in Indus Jugend der Fall war, für die jüngere Generation gar nicht mehr so ein großes Thema. Das betrifft die oberen Schichten in den Städten.

Indisches Hochzeitspaar, abfotografiert von einer Werbetafel

FM4/Irmi Wutscher

Indisches Hochzeitspaar, abfotografiert von einer Werbetafel

Mridula hat für sich beschlossen, dass sie nicht heiraten möchte. „Mein letzter Freund hat um meine Hand angehalten. Und er hat nicht einmal gewartet, ob ich ja sage oder nicht, da hat er schon bestimmt: Wenn wir erst verheiratet sind, kannst du keine Jeans mehr anziehen, sondern nur mehr Shalwar Kameez. Und ich glaube nicht, dass meine Familie dich arbeiten lässt.“ In dem Moment war für Mridula die Beziehung vorbei. „Darauf lasse ich mich nicht ein. Niemals“, sagt sie mit Überzeugung.

Lieber würde sie in lockeren Zweierbeziehungen leben. Obwohl das auch Schwierigkeiten bringt. „Mumbai ist sehr teuer, es ist fast unmöglich Immobilien zu kaufen, jede_r mietet.“ sagt sie. Vermieter_innen fragen aber nach, ob die Mieter_innen verheiratet sind. Sind sie das nicht, dann ist die Wohnung plötzlich nicht mehr auf dem Markt. „Wer es sich leisten kann, mietet zwei Wohnungen. Aber wer kann das schon in Mumbai?“

Also doch wieder zur Matchmakerin?

Also doch wieder zurück zu arrangierten Ehe? Mridula ist skeptisch. „Es gibt natürlich Vorteile. Wie zum Beispiel, dass Heirat von vornherein das Ziel von beiden ist, und man sich darüber im Klaren ist. Und dass man die Voraussetzungen und Vorstellungen, die man hat, offen diskutiert.“ Aber sonst schüttelt es Mridula bei der Vorstellung, die Eltern könnten sich ins Liebesleben einmischen.

Die Ehe wird in Indien so genau strategisch geplant wie die Karriere, erklärt eine Kollegin. Und tatsächlich, es herrscht die Idee vor, Verliebte würden irrational handeln und überstürzte Entscheidungen treffen. Warum also so etwas Gewichtiges wie die Ehe nicht in die Hände von erfahrenen Helfer_innen legen: der Familie. Dass die Eltern bzw. die ganze Familie bei der Eheanbahnung mitreden kann, hat mit der Vorstellung zu tun, dass es wichtiger ist, dass das ganze Umfeld der Paares die Ehe unterstützt als dass es sich hier um Liebe auf den ersten Blick handelt. Und, weiteres Argument auf shaaditimes.com, Newsseite der angeblich größten Eheanbahnungsseite der Welt: Warum so viel Zeit verschwenden auf der Suche nach dem oder der Richtigen? Lieber auf Ausbildung und Karriere konzentrieren und die Eltern machen lassen.

Weiße Haut, Kastengrenzen

Weiße Haut ist vor allem für zukünftige Bräute eine wichtige Eigenschaft, um auserwählt zu werden, neben Attibuten wie „homely“. Außerdem wird ein Horoskop erstellt, ob die beiden Zukünftigen wohl auch von den Sternen her zusammenpassen.

Ich bin als Teil des Medienbotschafter_innen-Programms der Robert-Bosch-Stiftung für drei Monate in Indien. Im ersten Monat in Chennai, am ACJ. Dann für zwei Monate in Mumbai, um bei der Tageszeitung The Hindu mitzuarbeiten.

Was natürlich noch dazukommt, aber oft nicht so offen ausbuchstabiert wird: Das Kastenwesen steht der „freien“ Liebe in Indien im Weg. Meistens auch noch die Religion und die Sprache. Vor allem gegenüber kastenübergreifenden Ehen sind die Familien oft negativ eingestellt. Das geht dann natürlich auch Hand in Hand mit Alltagsdingen, zum Beispiel ob jemand vegetarisch lebt oder nicht - ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal in der indischen Gesellschaft.

Da ist man auch wieder nicht so weit weg im Westen, wo die Forschung zunehmend Homogamie in der Partnerwahl sieht. Hier gibt es Beziehung vor allem zwischen Menschen derselben sozialen Schicht, Ausbildung und politischer Einstellung. Und was, schreibt diese indischstämmige Journalistin im New York Magazine, unterscheidet dann eigentlich Matchmaker-Seiten wie shaadi.com von Partnersuchportalen und Dating-Apps? Wo wir wieder bei Tinder wären.