Erstellt am: 7. 11. 2016 - 14:53 Uhr
Die Türkei kommt nicht zur Ruhe
Am Ende kam die Verhaftung der HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag überraschend, obwohl viele schon lange damit gerechnet hatten. Im Mai hatte das türkische Parlament die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben. Die Aktion war kein Alleingang der Regierungspartei AKP, sondern geschah mit Unterstützung der kemalistischen CHP und der ultra-nationalistischen MHP.
Schon bald flatterten bei Abgeordneten, gegen die in den letzten Jahren Ermittlungen gestartet wurden, die Vorladungen ein. Am stärksten davon betroffen war die HDP. Die links-liberale Partei ist in den Augen der türkischen Ermittler der politische Arm der verbotenen PKK.
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Jetzt wird Demirtas, Yüksekdag und vier weiteren Abgeordneten unter anderem die „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation“ vorgeworfen. Sebahat Tuncel von der HDP-Schwesterpartei DBP, die gegen die Verhaftung ihrer KollegInnen protestierte, wurde ebenfalls verhaftet. Als Reaktion hat die HDP beschlossen, ihre parlamentarische Arbeit auszusetzen.
Wieso jetzt?
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Die Verhaftung gewählter Parlamentarier hat besonders in Europa eine Welle der Empörung ausgelöst, aber auch in der Türkei halten die Diskussionen an. Die CHP, die selbst für die Aufhebung der Immunitäten mitverantwortlich ist, hat das Vorgehen kritisiert, aber ohne die HDP explizit zu benennen. Stattdessen betonte Partei-Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu, dass sie sich dafür einsetzten, dass „jene, die durch Wahlen gekommen sind, mit Wahlen abgesetzt werden sollen“.
Kritik kommt nicht nur aus dem Westen. Die Autonome Region Kurdistan im Irak, die zu den engeren Verbündeten der Türkei gehört, kritisierte die Verhaftungen. Doch die internationalen Reaktionen stoßen in der Türkei weitgehend auf taube Ohren. "Wir fragen uns nicht mehr, wer was sagen wird. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen", sagte Präsident Erdogan.
Dabei stecken hinter dem harten Vorgehen gegen die HDP nicht nur innenpolitische Motive. Die Verhaftungen sind wohl auch eine Reaktion auf die Unterstützung der kurdischen Selbstverteidigungskräfte (YPG) in Syrien. Sowohl US-Präsident Obama, als auch Kandidatin Hillary Clinton hatten wiederholt angekündigt, mit der YPG, den die Türkei als einen PKK-Ableger einstuft, weiterhin im Kampf gegen den IS zu kooperieren.
Am Sonntag hatten schließlich die von der YPG angeführten "Syrian Democratic Forces" (SDF) den Beginn einer Offensive gegen die "IS-Hauptstadt" Al-Raqqa verkündet.
Ein Anschlag, um den sich alle streiten
Die Abschaffung der Republik?
Was gerade in der Türkei passiert und was das mit dem Militärputsch von 1980 zu tun hat.
Neben der Verhaftungswelle hat sich die Türkei am Wochenende intensiv mit einem Terror-Anschlag in Diyarbakir beschäftigt. In der kurdisch geprägten Stadt wurden Freitag, also am Tag der Verhaftungen, bei einem Bombenattentat auf ein Polizei-Gebäude elf Menschen umgebracht.
Nur wenige Stunden danach beschuldigte die Regierung die PKK. Die HDP hingegen vermutete, dass der IS für den Anschlag verantwortlich sein könnte. Einer der Toten war ein lokaler kurdischer Politiker, der sich als Häftling im Gebäude befand.
Tatsächlich hat der IS überraschenderweise die Verantwortung übernommen. Überraschend, weil der IS sich bisher noch nie zu einem Anschlag in der Türkei bekannt hat.
Am Sonntag meldete sich schließlich eine andere Gruppe zu Wort: die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK). Auf ihrer Webseite erklärte TAK, dass Sicherheitskräfte das Ziel des Angriffs waren und dass sie den Tod von Zivilisten und des Politikers bedauern.
Die TAK bezeichnet sich selbst als Splitter-Gruppe der PKK, wobei die türkische Regierung keine Unterscheidung zwischen den beiden Organisationen macht. Die TAK hat seit 2015 wiederholt Anschläge in Großstädten mit vielen Toten verübt.
Cumhuriyet vs. Cumhuriyet
Vor den Operationen gegen die HDP hatte die Verhaftung der Cumhuriyet-Redakteure für Aufregung gesorgt. Die "Cumhuriyet" ist die älteste Zeitung der Türkei und äußert seit Jahren laute Kritik an der Regierung. Dabei hat die Zeitung selbst unterschiedliche Phasen erlebt.
In den ersten Jahren der AKP-Regierung vertrat das Tagesblatt ihre traditionell streng laizistische und kemalistische Linie. Der Gründer der "Cumhuriyet" war ein enger Freund des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk.
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Nach vielen Personalwechseln äußert die Zeitung ihre Kritik mittlerweile aus einer links-liberalen und pro-westlichen Position. Jetzt sitzen ihre JournalistInnen mit dem Vorwurf der PKK- und FETÖ-Mitgliedschaft in Haft. Als FETÖ bezeichnet die Regierung die Bewegung Fethullah Gülens, der für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.
Der Soziologe und Cumhuriyet-Kolumnist Ahmet Insel glaubt, dass die Regierung nicht allein gegen die Zeitung vorgeht. In einer Kolumne behauptet Insel, dass ehemalige Cumhuriyet-Autoren mit der AKP zusammenarbeiten, um wieder Kontrolle über die Zeitung zu übernehmen. Namentlich nennt er Mustafa Balbay.
Balbay selbst wurde 2008, als er für die "Cumhuriyet" geschrieben hat, verhaftet, weil ihm eine Mitgliedschaft zur ultra-nationalistischen "Ergenekon-Gruppe" vorgeworfen wurde. Damals wurde wegen Putschplänen gegen "Ergenekon" ermittelt. Mittlerweile wurden Militärs, JournalistInnen und AkademikerInnen, die damals verhaftet wurden, frei gesprochen. Offiziell gilt "Ergenekon" nun als Konstrukt gülenistischer Ermittler.
In einer Erklärung behauptet nun die Oppositionspartei CHP hingegen, dass die Verhaftungswelle gegen die "Cumhuriyet" von StaatsanwätInnen und RichterInnen gelenkt wird, die dem Gülen-Netzwerk nahe stehen. Die Partei wirft der Regierung vor, nicht aktiv genug gegen die sogenannte "FETÖ" vorzugehen.
Die Türkei kommt nicht zur Ruhe und so wie es aussieht, wird das noch lange so bleiben.