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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

4. 11. 2016 - 16:48

Brextremism Watch

Ich hab wieder einmal im Supermarkt die Titelseiten Brexitanniens studiert. Jetzt gehen sie auf Justiz und Parlament los. Das F-Wort bleibt uns nicht mehr erspart.

Ich hatte mich einfach geirrt, wieder einmal.

Da saß ich gestern an meinem Schreibtisch und fasste für den heutigen Kurier sowas wie eine objektive Sicht auf die gestrige Entscheidung des High Court von England und Wales zusammen. Und die Tatsachen sprachen so eindeutig für sich:

Laut Urteil des Gerichts bedeutete ein Aktivieren des Artikel 50, das den Brexit in Gang setzen würde, de facto die Aufhebung europäischer Rechte, die im European Community Act von 1972 enthalten und nach dem Beitritt Großbritanniens vom britischen Parlament in britisches Recht überführt wurden.

Nun hat aber nur das Parlament das Recht, seine eigenen Gesetze aufzuheben, das scheint in einer Demokratie völlig logisch und vernünftig. Dass Theresa Mays Regierung sich eines archaischen "Royal Prerogative", eines königlichen Vorrechts also, bedienen würde, um eine Entscheidung des Unterhauses zu umgehen, schien aus Perspektive meines Schreibtisches ganz offensichtlich wie ein realsatirischer Widerspruch zu all der Rhetorik von der Souveränität des britischen Parlaments, der sich die Brexit-Brigade im Referendumswahlkampf bedient hatte.

Ganz zu schweigen von der Souveränität britischer Gerichtsbarkeit.

Und da irrte ich mich.

Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, mit was für einer Leichtfertigkeit diese Patriot_innen sich, wenn angegriffen, zu Faschist_innen wandeln könnten.

Hoppla, halt, das F-Wort, wir wollen es nicht zu leicht gebrauchen. Wollen nicht durch seinen inflationären Einsatz vergangene Gräuel trivialisieren.

Aber langsam komm ich nicht mehr drum herum.

Am Tag, da der britische High Court sein Urteil fällte, titelte die Daily Mail mit „POPPY WAR!“ - Mohnblumenkrieg!

Daily Mail vom 3. November: Poppy War

Robert Rotifer

Es ging um die Weigerung der FIFA, Schottland und England bei ihrem Länderspiel am 11. November, dem Tag des Waffenstillstands im Ersten Weltkrieg, mit stilisierten Mohnblumen („poppies“) auf ihren Trikots spielen zu lassen.
Ein eigentlich unschuldiges, aber mit jährlich steigendem moralischem Druck propagiertes, von der sich anständig wähnenden Mehrheit getragenes Symbol des Gedenkens an die Kriegstoten, das die FIFA als politisches Abzeichen deutet und somit verbietet.

Unsinn, sagten die schottischen und englischen Fußballverbände, hier geht es nur ums Gedenken, nicht um Politik, aber der Daily-Mail-Titel gab der FIFA natürlich recht.

Was anderes als sinistre politische Motive hat jemand, der im Namen eines Symbols des Gedenkens jemand anderem den Krieg erklärt? Und zwar der FIFA, den "corrupt world football bosses", als Verkörperung des täglich von neuem bemühten Feindbild des Ausländers im Komplott gegen das britische Volk.

England, sagt die Mail, "WIRD" dem Verbot trotzen und den Tribut an "our valiant dead" - "unsere tapferen Toten" - auf den Trikots tragen.

Hier die korrupte Welt, da der Stolz auf unsere tapferen Toten.

Wie anders lässt sich so etwas charakterisieren denn als rechtsextrem?

In fetten Lettern auf jedem Ständer in jedem Supermarkt, jeder Tankstelle und gratis erhältlich in jeder Maschine der British Airways.

Zeitungen in britischem Supermarkt

Robert Rotifer

Heute nun hat nicht nur die Mail noch einen draufgelegt, indem sie die Bilder der drei Richter, die das Urteil des High Court fällten, mit der Schlagzeile „ENEMIES OF THE PEOPLE“ versah.
Richter als „Volksfeinde“? Weil sie dem Parlament das Recht zusprechen, souverän zu agieren?

Und erst der Express daneben mit seinem Union Jack und darüber der fast schon panische Ausruf „WE MUST GET OUT OF THE EU!“ mit dem Zusatz: „Gestern haben drei Richter den Brexit blockiert. NOW YOUR COUNTRY REALLY NEEDS YOU.“

Lord Kitchener "Your Country Needs You"

public domain

„Your Country Needs You“, das war der Slogan auf dem berühmten Poster der Rekrutierungskampagne im Ersten Weltkrieg.

Der Kriegsminister Lord Kitchener zeigt mit dem Finger auf die jungen Männer des Landes: „Dein Land braucht dich.“

Jene Sache endete in Mohnblüten auf den mit Blut getränkten Äckern der Somme.

Am 28. Juni, fünf Tage nach dem EU-Referendum, berichtete der Express übrigens von einer für den heurigen Armistice Day von der British Army angefertigten Sonderedition Poppies, gegossen aus dem Metall in der Battle of the Somme verwendeter Geschütze.

Politisch? Gar nicht.

Im Regal darüber lag auch noch die Sun mit dem Titel „WHO DO EU THINK YOU ARE?“, begleitet von einem Bild von Gina Miller, einer Investmentmanagerin, die führend an der siegreichen Klage gegen die britische Regierung beteiligt war. Dazu der Text „Loaded foreign elite defy the will of Brit voters“ - „stinkreiche ausländische Elite trotzt dem Willen britischer Wähler“.

Nun ist Gina Miller keine Ausländerin, sie hat einen britischen Pass. Aber um ihre fremdländischen Attribute hervorzuheben, hat die Sun ihre Gesichtsfarbe eingedunkelt. Und ihr Bild über der Brust abgeschnitten, damit man nicht sieht, dass sie ein Poppy auf ihrer Jacke trägt.

Die fett gedruckte Einleitung der zugehörigen Story punziert sie gleich doppelt als „foreign-born“ und „Guyana-born“. Eine essentielle völkische Beobachtung.

(Und ja: Die Ironie, dass die Sun dem stinkreichen Ausländer Rupert Murdoch gehört, produzierte tausend sarkastische Tweets in meiner Timeline-Blase.)

Selbst der Daily Telegraph zwei Regale drunter, im Blickfeld des gebückten Kleinbürgers, die Zeitung, die gemütliche konservative Pensionist_innen neben ihrer Orangenmarmelade und ihrem verchromten Toast-Ständer auf den Frühstückstisch legen, titelt: „The judges versus the people“ - „Die Richter gegen das Volk“.

Noch einmal: Gegen das Volk? Indem sie die Quatschbude Parlament damit betrauen, die radikalste Wendung der britischen Nachkriegsgeschichte zu verhandeln?

Wie anders wäre das noch zu bezeichnen denn als faschistisch?

(Im Englischen gibt’s das schöne Wort „fascistic“ als wunderbare Ausweichvokabel, wenn man nicht in die Definitionsfalle „fascist“ tappen will. „Faschistoid“ trifft's als Übersetzung nicht ganz, zu diffus.)

Wie gesagt, ich habe mich geirrt. Ich hatte nicht gedacht, dass der nächste Schritt so schnell kommen würde.

Auf der aktuellen Titelseite der BBC-News-Site kommen die heutigen Ereignisse in der Türkei übrigens gar nicht vor.

Der Wunsch, die politische Gegnerin ins Gefängnis zu stecken, der geht in Amerika seit Trump ja auch wieder rein. In Großbritannien lauert er als Schlagzeile von morgen schon hinter der nächsten Kurve.