Erstellt am: 4. 11. 2016 - 11:24 Uhr
Die Abschaffung der Republik?
von Can Gülcü
Caritas Wien
Can Gülcü ist Kulturschaffender und Aktivist, ehemaliger Co-Leiter von WIENWOCHE und der Shedhalle Zürich, Lehrbeauftragter an der Universität Graz und Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch, von Radio Orange 94.0 und der Initiative Vielmehr für Alle.
* Cumhuriyet ist türkisch für Republik und der Name einer türkischen Oppositionszeitung, deren Chefredakteur vor kurzem verhaftet wurde.
Ist Erdoğans Vorgehen nach dem 15. Juli so schlimm wie der Militärputsch des 12. September 1980? Nicht erst seit der Festnahme der HDP-Abgeordneten gestern Nacht fragen sich das viele, die die Türkei kritisch beobachten. Es wäre furchterregend genug, aber leider ist es mehr als das.
Die Abschaffung der Cumhuriyet*
Historische Vergleiche in politischen Alltagsdebatten sind eine komplizierte Sache. Wenn man sich dabei auf die Unterschiede zwischen politischen Systemen, historischen Ereignissen oder Figuren konzentriert, ist meistens noch alles gut. Sobald man allerdings bei Ähnlichkeiten und dem dazugehörigen Komparativ landet, geht es hingegen fast immer in die Hose, vor allem im Vergleich historisch mit aktuell. Schnell ist jedes heutige repressive Regime wie die damalige totalitäre Diktatur, jeder heutige abscheuliche Massenmord wie der damalige unvergleichliche Völkermord, jeder heutige autoritäre Politiker wie der damalige mörderische Despot, wenn nicht schlimmer.
Wenn man Systeme, Ereignisse oder Personen statt tatsächlich zu vergleichen mit Ungenauigkeiten, Verkürzungen oder Übertreibungen miteinander gleichsetzt oder sogar in ein Konkurrenzverhältnis, leugnet man aber nicht nur ihre jeweilige Einzigartigkeit. Man macht sich auch das eigene Leben schwer, wenn man dabei nicht nur ein Wirtshausgespräch führen, sondern gegen das aktuelle Unrecht handeln will. Schließlich brauchen die Wenigen, die noch bereit sind, politisch zu handeln, keine Alarmierung durch Nationalsozialismus-, Shoah- oder Hitlervergleiche und ähnliches, sondern Informationen, um sich der Kritik anschließen zu können und Möglichkeiten, um am Widerstand mitzumachen.
"Schlimmer als der 12. September"
Sprechen heute aus der Türkei stammende Oppositionelle über das aktuelle Vorgehen des Erdoğan-Regimes, hört man nicht selten, dass das, was da gerade passiert, "schlimmer als nach dem 12. September 1980" wäre. Spätestens seit der gestrigen Festnahme von 12 Abgeordneten der HDP inklusive ihren beiden Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş ist von einem unbestreitbaren "zivilen Coup" die Rede.
APA/AFP/ADEM ALTAN
Den Militärputsch von 1980 nennt man in der türkischen Alltagssprache schlicht "12 Eylül" (12. September) – das Datum als Code für den weitreichendsten Bruch der Gegenwartsgeschichte des Landes. Die Putschisten unter General Kenan Evren beließen es damals – im Gegensatz zu den beiden vorherigen Juntas – nicht dabei, mit militärischer Gewalt den politischen Kurs des Landes nach ihren Vorstellungen zu "korrigieren" bzw. die Autorität des kemalistischen Regimes wiederherzustellen. Der wesentliche Charakter des Putsches bestand im massiven Umfang seines Eingriffes, in dessen Nachhaltigkeit und in der Brutalität, wodurch dieser erfolgte.
Die "neue Türkei"
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Was die Junta von 1980 in den Jahren nach dem Putsch vollbrachte, war nichts weniger als die militärisch durchgeführte Neu-Organisation der türkischen Republik. Ihre Mittel waren das Verbot der Parteien und Gewerkschaften, die Verfolgung und Zerschlagung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Verhaftung, Vertreibung und systematische Folterung von zehntausenden Zivilist_innen sowie die nachhaltige Kontrolle der Politik durch eine repressive, antidemokratische Verfassung. Die Putschisten haben verboten, verfolgt, vertrieben und getötet. Und sie schufen die gesetzlichen Bedingungen dafür, dass der "Kurs stimmte". Ihr "Vermächtnis" war die Etablierung eines nationalistischen, wertkonservativen sowie wirtschaftsliberalen Regimes der Mitte, das die Türkei weitgehend befreit von (linker) Opposition als verlässliche geopolitisch-militärische Bündnispartnerin des "Westens" und als wachsender Absatzmarkt in die neoliberale Weltwirtschaft eingliedern sollte.
Was sie allerdings Anfang der achtziger Jahre noch nicht vorhersehen konnten, waren der Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauffolgende Veränderung der Weltordnung, der zweite Golfkrieg, der 11. September und seine Nachwirkungen sowie die verschiedenen Wandlungen und Krisen des Kapitalismus. Und den – auch damit verbundenen – Aufstieg zweier politischer Kräfte in der Türkei, die das Regime des Putsches grundsätzlich in Frage stellten: die politische Bewegung der Kurden und der politische Islam. Letzteres zunächst angeführt von der Milli Görüş-Bewegung Necmettin Erbakans und nach dessen Absetzung durch ein Memorandum des Militärs 1997 eben von der neu gegründeten AKP, die das Land seit 2002 regiert.
Nun der Vergleich
Was die Junta von 1980 erreichen wollte, war die Macht des etablierten politischen Systems, also der kemalistischen Republik, zu sichern, indem sie den in den sechziger und siebziger Jahren aufkeimenden Pluralismus in der Politik und der Gesellschaft mit Gewalt und Gesetz abzuschaffen versuchten. Was die AKP nach dem Putschversuch vom 15. Juli mit ähnlichen Mitteln und allerdings mit einer angeblichen demokratischen Legitimierung vollzieht, ist aber mehr als die Sicherung der eigenen Macht. Es ist scheinbar der Versuch, ebendiese Republik in ihrer jetzigen Form abzuschaffen und mit einer "2. Republik" zu ersetzen, in der die Demokratie keine wesentliche Rolle mehr spielt. Und umso mehr das populistische Führerprinzip.
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Was Aussagen wie "schlimmer als nach dem 12. September" und die Bezeichnung "ziviler Putsch" tatsächlich zulässig zu sein scheinen lässt, ist diese Tragweite. Der Putsch von 1980 war eine brutale, aber temporäre Aussetzung der Demokratie und des Rechtsstaats, die Leben zerstört und nachhaltig Schaden angerichtet hat. Erdoğan aber hat einen Weg zur absoluten Macht eingeschlagen. Das hat er gestern mit der mitternächtlichen Polizeioperation gegen HDP-Abgeordnete zum wiederholten Mal demonstriert. Wie weit er in eine totalitäre Richtung gehen wird, ist schlicht unklar. So wie die Dinge jetzt stehen, ist es allerdings zu befürchten, dass Erdoğan und seine AKP gerade über den Umweg der autoritären Demokratie die Staatsform "Neoliberaler Faschismus" erfinden.
Und was tun?
Die "Tragödie" der Republikaner und ihrer kemalistischen CHP ist aber im Moment nicht nur das. Nach Jahrzehnten militärischer, kultureller und politischer Bekämpfung von jeglichen Kämpfen um Rechte und Selbstbestimmung der Kurden unter dem Motto "Ein Staat – eine Nation – ein Volk", bilden im Moment gerade diese die einzige, bereits organisierte politische Kraft, die der AKP die Stirn bieten kann. Die Zukunft "ihrer" Republik hängt also von der Widerstandsfähigkeit der kurdischen Bewegung und ihrer parlamentarischen Vertretung HDP ab. Was dem Erdoğan-Regime spätestens seit dem Einzug der HDP ins Parlament bei den letzten Wahlen klarer zu sein scheint, als denjenigen, die sich als die fortschrittliche Mitte der türkischen Gesellschaft und Hüter der Republik sehen.
Kemalisten, Sozialdemokraten und Liberale werden Erdoğan nichts entgegenzusetzen haben, wenn sie den Widerstand der HDP weiterhin marginalisieren, als sich diesem anzuschließen. Wenn sie weiterhin darauf warten, dass das Regime nicht nur gegen die Kurden, sondern auch gegen sie vorgeht, wie im Fall der Tageszeitung Cumhuriyet. Weil ihnen mit der kurdischen Bewegung schlicht die wichtigste, erfahrenste und stärkste Bündnispartnerin im Kampf für die Demokratie fehlen wird.
Und Europa? Die Hüterin des Friedens und Wohlstands von Reykjavik bis Hakkari? Was soll man sagen? Europe is a mess ... Sich gegen Erdoğan zu stellen, hieße Alternativen zum Flüchtlingsdeal zu entwickeln, dem innenpolitischen Nachhall und den Konflikten zwischen hier lebenden Türkeistämmigen entgegenzuwirken und den Absatzmarkt sowie den gerade florierenden Waffenhandel zu gefährden. Dazu bräuchte es politische Entschlossenheit, was gerade nicht die herausragende Eigenschaft der EU oder einzelner Regierungen zu sein scheint. Dabei würden die Demokraten in der Türkei gerade jetzt die Unterstützung der EU sowie der europäischen Zivilgesellschaften wahrscheinlich mehr denn je brauchen.